Asynchron: Entropie |
InhaltNachdem Quinn aus dem Kern verschwunden ist und dabei die Technik der Anlage massiv beschädigt hat, muss Jonas einen Weg finden, die Zukunft der Forschungseinrichtung zu sichern. Den Wissenschaftler zerfressen Schuldgefühle, und er sehnt sich nach Wiedergutmachung. Daher setzt er alles daran, den ursprünglichen Zeitverlauf zu rekonstruieren.
Eric hingegen hat an der neuen Welt Gefallen gefunden. Einige Bewohner schlagen sich auf seine Seite und sehen Jonas’ Bemühungen sogar als gefährlich an. Sollte es gelingen, die anfängliche Realität wiederherzustellen, würde ihre Gemeinschaft zwangsläufig vernichtet werden. Währenddessen sucht Eve nach Quinn, damit er in den Kern zurückkehren kann, um den Konflikt dort beizulegen und das Unheil ein für alle Mal zu besiegen. Doch der junge Künstler ist in einer unbekannten Dimension verschollen, und das Schicksal der Menschheit hängt davon ab, ob sich Quinn und Eve an diesem fremdartigen Ort wiederfinden. Hier kaufen! |
Asynchron: Echos
|
InhaltNach großen Verlusten hat Quinn im unterirdischen Forschungsinstitut, dem Kern, eine Zuflucht vor dem tödlichen Chaos in der Stadt gefunden. Aber sein neues Zuhause ist ein Gefängnis – solange der Wissenschaftler Jonas die Prime-Information nicht identifiziert hat, um das Raum-Zeit-Kontinuum wieder zu ordnen und die verheerenden Auswirkungen seines Experimentes zu negieren, ist es so gut wie unmöglich, den Kern zu verlassen.Als sich Quinns Vorräte an Medikamenten gegen seine Wahnvorstellungen dem Ende zuneigen, flüstert ihm eine vertraute Stimme zu, dass er an die Oberfläche zurückkehren müsse, um großes Unheil abzuwenden.
Doch der einzige Weg nach draußen könnte den gesamten Kern und somit den Fortbestand der Menschheit in Gefahr bringen. Wie weit wird Quinn gehen, um den Echos seiner Vergangenheit hinterherzujagen? Hier kaufen! |
Asynchron
|
InhaltQuinn, ein aufstrebender Künstler, der nach einer Psychotherapie sein Leben endlich in den Griff bekommen hat, verliert während eines katastrophalen Blitzgewitters das Bewusstsein. Als er Stunden später wieder zu sich kommt, scheinen alle Menschen verschwunden zu sein. Auf der Suche nach seiner Freundin Eve trifft er jedoch auf wenige Überlebende. Sie berichten, dass sich die Stadt auf erschreckende Art und Weise verändert hat und warnen ihn vor einer Gefahr, die jede Nacht die verwaisten Straßen in eine tödliche Falle verwandelt. In Eves Wohnung findet Quinn eine Videoaufzeichnung von ihr, und die Wahrheit raubt ihm beinahe erneut den Verstand: Seit dem Unfall ist über ein Jahrzehnt vergangen. Aber es gibt auch Hoffnung. Eve berichtet von der Zuflucht eines Forschers, versteckt vor der Außenwelt. Wird Eve dort auf ihn warten? Oder etwas gänzlich anderes? Hier Kaufen! Leserstimmen:
„Durch die vielen offenen Fragen gerade zu Beginn, steigerte sich meine Neugierde immer weiter und ich konnte das Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen. […] Ich kann das Buch allen Fans von Endzeitbüchern, die auch vor einem Sci-Fi-Thriller nicht zurückschrecken weiterempfehlen.“ heavyfun.at „Der Autor hat es verstanden Spannung aufzubauen und seine Geschichte schlüssig zu erzählen. […] Wenn ich mich beim Lesen eines Buches über die Ungerechtigkeit und den Charakter einer Person so richtig aufregen kann, wenn ich emotional gefesselt werde, dann hat mich die Geschichte für sich eingenommen.“ buecher-wie-sterne.de |
Leseprobe
Prolog
Jonas’ Finger flitzten wie an jedem Abend seit Jahren über die Tastatur; er gab die verbleibenden Daten in den Computer ein und drückte die Entertaste. Auf dem Monitor schlich ein Ladebalken voran, und Jonas nahm seine Tasse vom Schreibtisch, um den Augenblick bis zur Datenauswertung mit einem Schluck Kaffee zu überbrücken. Das kalte Gesöff erinnerte ihn daran, dass er heute bereits viel zu lange vor dem Rechner hockte.
Die Messwerte ploppten auf dem Bildschirm auf. Jonas spuckte den Kaffee darauf, als würden die Zahlen ihn in den Magen schlagen. Er hämmerte seine Faust auf den Schreibtisch, und eine der Tassen von den Abenden zuvor fiel zu Boden und zerschellte klirrend.
Wenige Sekunden vergingen, bis Licht die Düsternis in Jonas’ Arbeitszimmer herausforderte. Die Tür knarrte, und seine Frau kam in den Raum.
»Habe ich mir schon gedacht, dich wieder vor der Mattscheibe vorzufinden, als das Bett neben mir leer war«, grummelte sie. »Ständig bist du hier oder verkriechst dich in deinem Labor. Du musst morgen früh noch den Unterricht vorbereiten, also komm ins Bett jetzt.«
»Scheiß auf den Unterricht, Marion. Komm her, schau dir die Messdaten an«, sagte Jonas und winkte sie zu sich.
Marion trottete zum Bildschirm und starrte auf die Auswertung. Ihr Haar war durcheinander, und das Licht des Monitors betonte die Furchen ihrer Augenringe; der Anblick erinnerte Jonas an damals, als Marions Schwester noch ein Baby gewesen war und sie nachts auf Trab gehalten hatte – aber dies war lange vergangen, ein anderes Leben, als er und seine Leute noch nicht im Untergrund von Neo-greyTek gefangen waren. Marions schwere Augenlider sprangen nach oben, sie schnappte nach Luft und wich einen halben Schritt zurück.
»Wir haben die Grenzwerte überschritten«, sagte sie. »Wenn die Werte stimmen, ist das der Anfang vom Ende. Jonas, nein, das ist unmöglich, ich dachte, wir hätten mehr Zeit.«
»Zeit? Wir hatten vierzehn Jahre lang Zeit. Und seitdem keine wasserdichten Ergebnisse. Was bin ich nur für ein Wissenschaftler?« Jonas blickte auf die Zahlen mit einem Gesichtsausdruck, als würde er einen fürchterlichen Autounfall mitansehen müssen.
»Wasserdicht hin oder her, auch ein Boot mit Leck kommt von einem Hafen zum anderen. Es ist nicht so, dass wir nichts haben. Wie weit ist Richard mit seiner Forschung? Können wir es mittlerweile kontrollieren?«
»Das weiß ich nicht, theoretisch vielleicht, aber es gab bis jetzt keine Testläufe. Die Säule läuft noch nicht stabil; gibt es eine Fehlfunktion, fliegt möglicherweise die gesamte Anlage in die Luft!«
»Das Risiko müssen wir eingehen!«, sagte Marion. »Wir haben keine andere Wahl!«
»Nein, ich werde das Risiko erst eingehen, wenn ich überzeugt bin, keine andere Alternative zu haben«, konterte Jonas. »Wenn es sich bei den gemessenen Werten lediglich um eine Anomalie handelt, setze ich hier alles für nichts aufs Spiel.«
»Das nächste Datenpaket erhältst du erst in vierundzwanzig Stunden; stimmen die Werte, fehlt uns die Zeit, es aufzuhalten. Du und Richard, ihr müsst den Prozess vorbereiten. Schnellstmöglich. Wir müssen handeln. Jetzt!«
»Ich habe nicht vor, auf das nächste Datenpaket zu warten. Wir werden eine direkte Messung an der Oberfläche durchführen. Bestätigt sich der Grenzwert, legen wir los.«
»Messung an der Oberfläche?«, fragte Marion mit gekreuzten Armen. »Niemand war seit Jahren an der Oberfläche! Wer soll in die Stadt aufbrechen? Du?«
»Sei nicht lächerlich. Deine Schwester geht.«
»Kirsten? Nein, nein, nein … auf gar keinen Fall! Sie bleibt hier, das ist viel zu gefährlich. Erinner dich, was das letzte Mal passiert ist, als sie allein oben war! Ich werde die Messungen durchführen!«
»Kirsten hat damals einen Fehler gemacht, ja, aber sie hat daraus gelernt. Deine Schwester kennt die Gefahren oben … du nicht. Nur Kirsten kann mir schnell genug die Daten besorgen. Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber wir haben keine andere Wahl!«
»Dann werde ich sie begleiten!«, schlug Marion vor. »Kirsten ist doch noch fast ein Kind. Wir gehen zu zweit!«
»Nein, ich brauche dich hier. Du musst Richard und mir helfen, alles vorzubereiten und die Säule zu konfigurieren. So sparen wir Zeit für den Ernstfall. Ich dachte, das wäre in deinem Interesse?«
Marion schwieg und schaute ihren Mann an. Kein Wort war nötig, ihre Augen verrieten Jonas all ihre Zweifel.
»Kirsten ist kein Kind mehr«, fuhr er fort. »Sie ist mittlerweile eine junge Frau. Es gab einen Zwischenfall, einen einzigen … davor ist Kirsten immer unbeschadet zurückgekehrt, ihr ist nie etwas zugestoßen. Vertrau deiner Schwester, sie wird das schaffen.«
»Aber … aber, nein, was, wenn …«, stammelte Marion.
»Keine Widerrede! Wir werden es so machen, wie ich es sage! Uns fehlt die Zeit für Diskussionen. Es steht zu viel auf dem Spiel!«
»Na gut, ich schicke sie los, aber wenn ihr etwas zustößt, bist du dafür verantwortlich!« Marion wandte sich von ihm ab und stolzierte aus dem Arbeitszimmer.
Jonas fühlte sich schlecht, wusste, er würde seine Schwägerin einem großen Risiko aussetzen, aber es gab keine Alternative. Das Schicksal seiner Familie und aller anderen hing davon ab.
Wenn die Raumzeit tatsächlich beginnt zu kollabieren, ist es meine Aufgabe, dies zu verhindern, immerhin bin ich dafür verantwortlich, dachte Jonas.
Jonas’ Finger flitzten wie an jedem Abend seit Jahren über die Tastatur; er gab die verbleibenden Daten in den Computer ein und drückte die Entertaste. Auf dem Monitor schlich ein Ladebalken voran, und Jonas nahm seine Tasse vom Schreibtisch, um den Augenblick bis zur Datenauswertung mit einem Schluck Kaffee zu überbrücken. Das kalte Gesöff erinnerte ihn daran, dass er heute bereits viel zu lange vor dem Rechner hockte.
Die Messwerte ploppten auf dem Bildschirm auf. Jonas spuckte den Kaffee darauf, als würden die Zahlen ihn in den Magen schlagen. Er hämmerte seine Faust auf den Schreibtisch, und eine der Tassen von den Abenden zuvor fiel zu Boden und zerschellte klirrend.
Wenige Sekunden vergingen, bis Licht die Düsternis in Jonas’ Arbeitszimmer herausforderte. Die Tür knarrte, und seine Frau kam in den Raum.
»Habe ich mir schon gedacht, dich wieder vor der Mattscheibe vorzufinden, als das Bett neben mir leer war«, grummelte sie. »Ständig bist du hier oder verkriechst dich in deinem Labor. Du musst morgen früh noch den Unterricht vorbereiten, also komm ins Bett jetzt.«
»Scheiß auf den Unterricht, Marion. Komm her, schau dir die Messdaten an«, sagte Jonas und winkte sie zu sich.
Marion trottete zum Bildschirm und starrte auf die Auswertung. Ihr Haar war durcheinander, und das Licht des Monitors betonte die Furchen ihrer Augenringe; der Anblick erinnerte Jonas an damals, als Marions Schwester noch ein Baby gewesen war und sie nachts auf Trab gehalten hatte – aber dies war lange vergangen, ein anderes Leben, als er und seine Leute noch nicht im Untergrund von Neo-greyTek gefangen waren. Marions schwere Augenlider sprangen nach oben, sie schnappte nach Luft und wich einen halben Schritt zurück.
»Wir haben die Grenzwerte überschritten«, sagte sie. »Wenn die Werte stimmen, ist das der Anfang vom Ende. Jonas, nein, das ist unmöglich, ich dachte, wir hätten mehr Zeit.«
»Zeit? Wir hatten vierzehn Jahre lang Zeit. Und seitdem keine wasserdichten Ergebnisse. Was bin ich nur für ein Wissenschaftler?« Jonas blickte auf die Zahlen mit einem Gesichtsausdruck, als würde er einen fürchterlichen Autounfall mitansehen müssen.
»Wasserdicht hin oder her, auch ein Boot mit Leck kommt von einem Hafen zum anderen. Es ist nicht so, dass wir nichts haben. Wie weit ist Richard mit seiner Forschung? Können wir es mittlerweile kontrollieren?«
»Das weiß ich nicht, theoretisch vielleicht, aber es gab bis jetzt keine Testläufe. Die Säule läuft noch nicht stabil; gibt es eine Fehlfunktion, fliegt möglicherweise die gesamte Anlage in die Luft!«
»Das Risiko müssen wir eingehen!«, sagte Marion. »Wir haben keine andere Wahl!«
»Nein, ich werde das Risiko erst eingehen, wenn ich überzeugt bin, keine andere Alternative zu haben«, konterte Jonas. »Wenn es sich bei den gemessenen Werten lediglich um eine Anomalie handelt, setze ich hier alles für nichts aufs Spiel.«
»Das nächste Datenpaket erhältst du erst in vierundzwanzig Stunden; stimmen die Werte, fehlt uns die Zeit, es aufzuhalten. Du und Richard, ihr müsst den Prozess vorbereiten. Schnellstmöglich. Wir müssen handeln. Jetzt!«
»Ich habe nicht vor, auf das nächste Datenpaket zu warten. Wir werden eine direkte Messung an der Oberfläche durchführen. Bestätigt sich der Grenzwert, legen wir los.«
»Messung an der Oberfläche?«, fragte Marion mit gekreuzten Armen. »Niemand war seit Jahren an der Oberfläche! Wer soll in die Stadt aufbrechen? Du?«
»Sei nicht lächerlich. Deine Schwester geht.«
»Kirsten? Nein, nein, nein … auf gar keinen Fall! Sie bleibt hier, das ist viel zu gefährlich. Erinner dich, was das letzte Mal passiert ist, als sie allein oben war! Ich werde die Messungen durchführen!«
»Kirsten hat damals einen Fehler gemacht, ja, aber sie hat daraus gelernt. Deine Schwester kennt die Gefahren oben … du nicht. Nur Kirsten kann mir schnell genug die Daten besorgen. Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber wir haben keine andere Wahl!«
»Dann werde ich sie begleiten!«, schlug Marion vor. »Kirsten ist doch noch fast ein Kind. Wir gehen zu zweit!«
»Nein, ich brauche dich hier. Du musst Richard und mir helfen, alles vorzubereiten und die Säule zu konfigurieren. So sparen wir Zeit für den Ernstfall. Ich dachte, das wäre in deinem Interesse?«
Marion schwieg und schaute ihren Mann an. Kein Wort war nötig, ihre Augen verrieten Jonas all ihre Zweifel.
»Kirsten ist kein Kind mehr«, fuhr er fort. »Sie ist mittlerweile eine junge Frau. Es gab einen Zwischenfall, einen einzigen … davor ist Kirsten immer unbeschadet zurückgekehrt, ihr ist nie etwas zugestoßen. Vertrau deiner Schwester, sie wird das schaffen.«
»Aber … aber, nein, was, wenn …«, stammelte Marion.
»Keine Widerrede! Wir werden es so machen, wie ich es sage! Uns fehlt die Zeit für Diskussionen. Es steht zu viel auf dem Spiel!«
»Na gut, ich schicke sie los, aber wenn ihr etwas zustößt, bist du dafür verantwortlich!« Marion wandte sich von ihm ab und stolzierte aus dem Arbeitszimmer.
Jonas fühlte sich schlecht, wusste, er würde seine Schwägerin einem großen Risiko aussetzen, aber es gab keine Alternative. Das Schicksal seiner Familie und aller anderen hing davon ab.
Wenn die Raumzeit tatsächlich beginnt zu kollabieren, ist es meine Aufgabe, dies zu verhindern, immerhin bin ich dafür verantwortlich, dachte Jonas.
Kapitel 1
Quinn streichelte seinen kratzigen Dreitagebart, stand in einem Wust dreckiger Wäsche und schaute in den Spiegel seines Wandschrankes. Das knarzende Radio ignorierend begutachtete er konzentriert sein Aussehen. Sein mittellanges blondes Strubbelhaar lag gut, aber nicht zu perfekt, sodass es immer noch einen Hauch Chaos ausstrahlte. Er pustete eine Haarsträhne aus seinem Gesicht und ließ den Blick nach unten wandern, um die bisherige Auswahl seiner Kleidung zu betrachten. Quinn trug ein grün kariertes Hemd, wobei die gewöhnlichen Knöpfe durch Smiley-Knöpfe ersetzt worden waren, die Quinn angrinsten und denen er mit einem breiten Grinsen antwortete.
Quinn besaß nicht sonderlich viel Kleidung, aber jedes seiner Kleidungsstücke schmückte ein besonderes Merkmal, das er selbst anfertigte. Seien es Aufnäher mit beispielsweise zerfließenden Uhren darauf oder auch übertrieben große Manschettenknöpfe in der Form von Gitarren, aufgespannten Regenschirmen oder vierblättrigen Kleeblättern.
Sein Blick flitzte ans hintere Ende seiner kleinen Zweizimmerwohnung, wo das aufgehende Sonnenlicht seine drei Staffeleien und den Lack seiner Farbtöpfe küsste, die daraufhin herausfordernd schimmerten.
Doch er war mit seiner Kunst seit längerer Zeit unzufrieden, was nicht nur an den kreativen Blockaden lag, die er hoffte bald überwinden zu können. Als Illustrator kam Quinn zwar einigermaßen über die Runden, doch sein Geld verdiente er ausschließlich mit Auftragsarbeiten. Meist Werbeanzeigen, die nichts mit kreativer Selbstverwirklichung gemein hatten, für Produkte, die seiner Meinung nach niemand wirklich benötigte.
Seine Freundin Eve teilte seine Leidenschaft für das Außergewöhnliche und stand seit Jahren hinter ihm – in guten wie in schlechten Zeiten. Quinn und Eve hatten gemeinsam einen Plan geschmiedet, um die nächsten Jahre nicht von Luft und Liebe leben zu müssen – ihre eigene kleine Kreativagentur. Quinn wollte keine Werbung mehr für Banken, Fast Food oder Billigkleidung entwerfen, sondern vielmehr für Unternehmen, mit denen er auf einer Wellenlänge lag wie gemeinnützige Vereine, Umweltschützer oder Non-Profit-Organisationen. Mit Eve zusammen gegen den Rest der Welt!, dachte er hoffnungsvoll.
Um dieses Projekt zu ermöglichen, benötigten sie jedoch neben dem Startkapital zunächst einen Unternehmenssitz, für den ihre erste gemeinsame Wohnung herhalten sollte. Warum hat sich Eve nur all die Zeit gesträubt, mit mir zusammenzuziehen?, fragte er sich, obwohl er die Antwort insgeheim erahnte. Aber sie hatte endlich auf sein Drängen hin eingewilligt, und beide trafen sich heute um halb eins mit einem Vermieter.
Vor diesem Termin musste Quinn jedoch noch einen anderen Termin absolvieren, um das schwerste Kapitel seines Lebens abzuschließen. Bevor er sich in den morgendlichen Verkehr der Großstadt stürzen würde, schnappte er sich vom Boden die nächstbeste, einigermaßen gut riechende Jeans, zog seine abgetragenen Schuhe an und ging ins Bad. Quinn öffnete den Spiegelschrank und holte eine Tablettendose heraus, schluckte wie jeden Morgen eine Pille und atmete durch.
Das war es, nie wieder, ich werde das nie wieder brauchen. Ich bin gesund, das Unheil … nein, es ist nicht echt.
Der antik anmutende Röhrenfernseher, der in der Werkstatt auf einem maroden Holztischchen stand, zeigte nur Schnee. Eric fummelte an der Antenne herum, bog sie hin und her, doch der Empfang verbesserte sich kein Stück. Mit seiner flachen Hand klopfte er leicht gegen den Bildschirm, was auch nicht half. Daraufhin packte Eric den handlichen Apparat und schüttelte ihn.
»Warum? Was soll das? Du blödes Mistding!«, fluchte er, setzte sich auf eine Kiste und starrte in die Röhre, auf die flackernde Herde schwarzer und weißer Schafe. Mit seiner Faust schlug er mehrfach auf das Gerät, jeder Schlag begleitet von einem energischen »Komm schon!«.
»Dir ist schon klar, dass das absolut nichts bringt?«, sagte sein Arbeitskollege David, der zwischen Tür und Angel aus dem Nichts aufgetaucht war. »Der Empfang ist gestört. Nimm doch gleich die Zange da drüben und schlag damit auf ihn ein. Geht schneller, wenn du das Teil kaputt machen willst.« David zeigte an die Wand, wo zahlreiche von Rostinseln bedeckte Schraubendreher, Zangen und Gabelschlüssel hingen.
Eric schaute mürrisch zu dem groß gewachsenen Mann mit dem kurzen Strohhaar, der den gleichen blauen Overall wie er selbst trug. »Sei ruhig! So einen neunmalklugen Kommentar kannst du dir sparen. Die Wiederholung von Synthese fängt gleich an, aber alle Sender sind tot! Ich muss die Wiederholung unbedingt gucken, andernfalls werde ich gespoilert, sobald ich zu Hause online gehe und mich ins Fanforum einlogge. Die letzte Folge endete mit einem krassen Cliffhanger, weißt du.«
»Du könntest auch einfach nicht online gehen«, erwiderte David. »Doch wenn du Glück hast, funktioniert das Internet dann auch nicht, ich kann seit Stunden meine Mails nicht abrufen.« Er wedelte mit seinem Smartphone herum. »Aber du weißt schon, dass du eigentlich arbeiten solltest? Du willst dir stattdessen ernsthaft diese dumme Serie reinziehen?«
»Habe ich mir so gedacht. Es gibt gerade sowieso nichts zu tun, und wenn, kann ich Arbeit und Fernsehen durchaus kombinieren. Ich bin ein Multitasking-Genie!«
»Manchmal frage ich mich, warum du hier überhaupt noch angestellt bist.« David schüttelte seinen Kopf.
»Das ist einfach«, sagte Eric und lächelte. »Ich bin eben ein unfassbar charmanter Kerl.«
»Ich stimme zu, dass du unfassbar bist. Nichtsdestotrotz muss einer den Abschleppwagen nehmen und ins Zentrum fahren. Du kennst unseren Deal mit der Stadt. Die Kassen sind leer, und wir sollen jeden Falschparker abschleppen. Daran verdienen beide. Diesen Monat haben wir unsere Quote noch nicht erfüllt. Jemand sollte sich einfach mal draußen umsehen. Der Chef wird stinksauer sein, wenn er aus dem Urlaub zurück ist.«
»Aber der Chef ist nicht da. Das können wir auch morgen oder Ende der Woche machen. Kein Stress, wir werden schon nicht pleitegehen, wenn der Abschleppwagen heute in der Garage bleibt. Aber ich zwing dich zu nichts, wenn du unbedingt loswillst. Wir sehen uns dann später. Wünsche dir eine gute Fahrt!« Eric wandte seinen Blick dem Fernseher zu.
»Na ja, allerdings muss der Van noch ausgeschlachtet werden«, sagte David. »Das ist eigentlich meine Aufgabe, aber das müsstest du dann übernehmen, wenn ich unterwegs bin. Davor wirst du dich nicht drücken können. Das muss heute fertig werden, und außer uns ist keiner da!«
Eric blickte zu der heruntergelassenen Hebebühne, auf der ein schwarzer Van stand, den getrocknete Ölflecken auf dem Betonboden umgaben, und wieder zurück zum Fernseher. Er rümpfte die Nase und roch den Kupfergeruch, den er stets mit Arbeit assoziierte. Ein letztes Mal klopfte er gegen die Seite des Apparates – nichts geschah. Eric gab sich geschlagen und akzeptierte, seine Serie heute zu verpassen. Somit gab es keinen Grund mehr, in der Werkstatt zu bleiben, insbesondere da er sich dann dem Van widmen müsste. Das ist anstrengende körperliche Arbeit!, dachte er. Erics Arbeitsweise folgte dem Prinzip des minimalen Aufwandes, daher bevorzugte er eine ruhige Fahrt in das Stadtzentrum, bei der er lediglich nach Falschparkern Ausschau halten musste.
»Augenblick!«, sagte Eric. »David, du hast vollkommen recht. Mein Arbeitseinsatz sollte, nein, er muss sogar weitaus höher sein. Ich werde die Tour für dich übernehmen!«
»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte David und warf seinem Arbeitskollegen die Schlüssel zu.
Eric stand auf, streifte sich seine braune Lederjacke über und machte sich auf den Weg.
Rendite. Mehr Rendite. Wie soll ich das nur anstellen? Was denkt sich der Chef nur? Diese Jahresziele sind nicht zu erreichen. Hat er die Analystenpapiere überhaupt gelesen? Natürlich nicht, und am Ende des Tages ist alles wieder mein Fehler!
Robert starrte angestrengt auf seinen Bildschirm. Er gähnte, sein Kiefer knackte dabei, und seine Gesichtsmuskulatur schmerzte, was ihn einen Augenblick von dem Stechen hinter seinen Augen ablenkte. Die Nacht war viel zu kurz und sein Schlaf wie so oft unruhig gewesen. Sein rechtes Auge zuckte hinter dem schwarzen Brillengestell, als er auf die Akten und Ordner schaute, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, dort Stellung bezogen hatten und ihn umzingelten. In den Unterlagen waren lauter Zahlen vermerkt, die er noch prüfen musste, wodurch er – ein weiteres Mal – erst spät nach Hause kommen würde.
Nur noch ein Jahr, dann bin ich hier weg und such mir was anderes. Robert, vergiss nicht, das ist nur ein Sprungbrett. Aber fürs Erste brauch ich die Berufserfahrung und das Geld. Wenigstens Letzteres stimmt.
Er wollte gerade zum ersten Mal an diesem Morgen an seinem Kaffee nippen, als sein Chef Herr Hoffman wie ein tobender Bulle die Bürotür aufriss. Hoffmans Bauch quoll über seinen viel zu engen Gürtel. Er schwitzte; die Deckenbeleuchtung spiegelte sich auf seiner Glatze, und Schweißflecken durchtränkten sein teures Hemd an den Achseln. Roberts Vorgesetzter kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander und atmete kräftig ein und aus. Robert ahnte, dass ihm gleich mächtig Ärger bevorstünde – er kannte diesen Blick, und er bedeutete nichts Gutes.
»Sehe ich eigentlich aus wie ein Tierparkwärter? Denn ich glaube, vor mir sitzt kein Mitarbeiter, sondern ein Esel! Sie haben doch nicht ernsthaft den Kredit für diese Maulwürfe freigegeben?« Hoffman kam ihm unangemessen nahe, wodurch sein beißender Mundgeruch Roberts Nase quälte. Robert erstarrte eine Sekunde wie ein Reh nachts auf der Straße vor den heranrasenden Scheinwerfern eines Autos. Er spürte die Blicke seiner Arbeitskollegen im Büro deutlich, als würden sie amüsiert einer Hinrichtung beiwohnen.
»Sie … Sie sprechen von Neo-greyTek und dem Kern?«, antwortete Robert zaghaft und lehnte sich mit seinem Oberkörper nach hinten. »Ja … richtig, ich habe den Kreditantrag genehmigt, weil … weil Neo-greyTek verglichen mit unseren anderen Kunden die beste Bonität aufweist.«
»Was interessiert mich die Bonität?«, maulte Roberts Chef. »Ich will zum Quartalsende Rendite auf unserem Konto sehen! Wie soll ich diese Entscheidung vor dem Vorstand rechtfertigen? Sagen Sie es mir!«
Roberts Stimme wurde immer dünner. »Das … sollte nur ein Bestandteil eines Portfolios sein. Neo-greyTek als langfristige Investition könnte andere Kreditausfälle ausgleichen … in einigen Jahren. Insbesondere nachdem die Aktienkurse von Ambyous eingebrochen sind. Ich dachte, eine sichere Renditeaussicht für die Zukunft wäre ein stabiler Eckpfeiler für die Bank.«
»Sie dachten? Sie sollen nicht denken, Sie sollen machen! Haben Sie sich die Geschäftsberichte von Neo-greyTek durchgelesen? Der Bau und die Konzeption des Kerns haben bereits Unsummen verschlungen. Und seit Jahren forschen sie unter der Erde mit ihrem Teilchenbeschleuniger herum und haben bis heute keinerlei Ergebnisse veröffentlicht. Niemand weiß, was die da unten veranstalten!«
»N… nein, das ist so nicht richtig. Gerüchten zufolge wird Neo-greyTek dieses Geschäftsjahr eine Pressekonferenz abhalten und Ergebnisse präsentieren. Neo-greyTek war schon immer ein innovatives Forschungsinstitut. Wenn sie in die Forschung investiert haben, werden sie sicherlich mit bahnbrechenden neuen Technologien zur Energiegewinnung aufwarten, die sie monetarisieren und von denen auch wir profitieren werden. Es wird einen Grund geben, weswegen sie all die Jahre geschwiegen haben. Ich denke, Neo-greyTek schützt seine Ideen lediglich vor der Konkurrenz.«
Hoffman schwieg und dachte augenscheinlich über Roberts Argumentation nach. Robert erkannte in dem Schweigen, dass er einen guten Punkt angeführt hatte, den sein Chef nicht abstreiten konnte. Er wusste aber auch, dass sein Chef dies niemals zugeben würde.
»Schön, dann will ich hoffen, dass Ihr Plan aufgeht. Und das sollten insbesondere auch Sie hoffen. Verstehen wir uns? Nichtsdestotrotz haben Sie bis zum Quartalsende Ihre Renditeziele zu verdoppeln. Es ist mir egal, wie Sie das anstellen, tun Sie es einfach!«
Wie kann er es wagen, mir wegen meiner Entscheidung noch mehr Arbeit aufzudrücken?, dachte Robert. Bin ich der einzige Mitarbeiter hier? Ich habe meine Arbeit gut gemacht. Dieser inkompetente Idiot ohne Geschäftssinn und Weitsicht. Wie hat er eigentlich diesen Job gekriegt? Das war doch reine Vetternwirtschaft. Dieses dumme, fette Schwein!
»Selbstverständlich, ich werde mich sofort an die Arbeit machen. Sie werden nicht enttäuscht von mir sein!«, sagte er tatsächlich.
»Das will ich Ihnen auch geraten haben, mein Freundchen!«, sagte Roberts Chef und streckte ihm drohend seinen Zeigefinger entgegen, bevor er das Büro mit einem Türknall verließ.
Robert hatte gelogen, denn er machte sich nicht sofort an die Arbeit, sondern nahm seine Kaffeetasse in die Hand, stand auf und schaute aus dem Bürofenster. Es war früh, die Sonne erhob sich gerade erst über den Gebäuden und färbte den unteren Teil des wolkenfreien Himmels rötlich und die Dächer golden. Er hoffte, sich durch den Ausblick aus der zweiunddreißigsten Etage zu beruhigen, doch die leer stehenden Büros des Nachbargebäudes, in denen höchstens noch einige Hausbesetzer herumlungerten, schürten in ihm die Angst, dass seiner Bank das gleiche Schicksal drohte, verursacht durch die wirtschaftlich kurzsichtige Führung ihres Managements. Er atmete tief durch und versuchte, seine Verärgerung zu verbergen. Er wollte die Fassade aufrechterhalten, seinen Chef zu respektieren und sämtliche ihm aufgetragenen Aufgaben gehorsam zu erledigen.
Ein heller Blitz raste am Fenster vorbei und riss Robert aus seinen Gedanken. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Gewitterblitzen, die sofort wieder verschwanden, war dieses Lichtphänomen anders. Roberts Blick folgte dem Blitz einige Sekunden, und er bemerkte, dass sich dieser zielgerichtet auf das Stadtzentrum zubewegte.
Er drehte sich zu seinen Kollegen um und fragte verdutzt: »Habt ihr das gerade auch gesehen? Diesen Blitz?«
Sie lösten unisono den Blick von ihren Bildschirmen und schauten Robert fragend an.
»Ein Blitz?«, sagte seine Kollegin Lisa. »Robert, sieh dir den Himmel an. Es ist ein sonniger Morgen. Das war vermutlich nur eine Spieglung im Fenster eines gegenüberliegenden Gebäudes. Jetzt steh da nicht blöd in der Gegend rum, sondern erledige deine Aufgabe. Ich habe keine Lust, dass der Chef noch mal hier reinstürmt. Nachher steht noch einer von uns anderen auf seiner Abschussliste.«
Robert drehte sich wieder um und beobachtete den Himmel, erkannte aber nichts Außergewöhnliches. Eigenartig, dachte er.
Quinn saß in der Praxis seines Psychotherapeuten Herrn Meyer in einem schwarzen Ledersessel und beugte sich nach vorne. Sein Gegenüber schaute zu ihm, ein Blick, der Quinn zu durchdringen schien – Meyers Haar war grau meliert, und er trug einen grün-rot karierten Pullover. Der Therapeut schlug die Beine übereinander und hielt wie immer einen Notizblock in den Händen, voller Anmerkungen, die Quinn nie zu Gesicht bekam. An den Wänden hingen zahlreiche Diplome und Zertifikate; sie erzeugten in Quinn Vertrauen und versicherten ihm, in guten Händen zu sein. Ein glänzender Glastisch trennte sie voneinander und wahrte den Abstand zwischen Arzt und Patient; darauf klickte ein Kugelpendel hin und her und gab den Takt wie ein Metronom vor.
»Ich bin wirklich glücklich, heute hier mit Ihnen zu sitzen«, sagte Herr Meyer. »Ihre Fortschritte sind beeindruckend, Quinn. Ich glaube, wir haben den Ursprung des Unheils hinlänglich ergründet.«
»Und dafür danke ich Ihnen«, sagte Quinn. »Ich bin mittlerweile überzeugt, dass kein Unheil über mich oder die Menschen hereinbrechen wird und dass die Stimmen, die mich davor gewarnt haben, keiner höheren Macht entsprungen sind.«
»Ich bin froh über Ihre Einsicht«, sagte Herr Meyer. »Es läuft mir immer noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, dass die Stimmen Sie dazu motiviert haben, sich diesen Öko-Terroristen anzuschließen.«
»Die Sache mit dem Grünen Patron, das war dumm, ja, doch die Stimmen haben mich immer nur vor Unheil gewarnt, aber nie konkret gesagt, wovor genau und wie ich es aufhalten kann. Der Grüne Patron hat mir mit seinem Kampf gegen Ambyous eine einfache Antwort geboten.«
»Die Geschichte hat gezeigt, dass es die falsche Antwort gewesen ist«, sagte der Therapeut in ernstem Ton. »Auch wenn Ambyous damals rücksichtslos die Umwelt geschädigt hat, ist das noch lange keine Rechtfertigung für die Taten des Grünen Patrons.«
»An dem Anschlag war ich aber nicht beteiligt«, sagte Quinn und hob seine Hände. »Trotzdem, ich war an anderen Aktionen beteiligt, bei denen Menschen zu Schaden kamen, und auf dem Höhepunkt meines Wahns habe ich selbst Eve verletzt.«
»Aber das war schlussendlich nötig, damit Sie sich Hilfe gesucht haben und nun die Therapie heute erfolgreich abschließen.«
Herr Meyer öffnete daraufhin die Schublade eines Schränkchens neben ihm, woraus er eine Tablettendose hervorholte und sie vor Quinn auf den Tisch stellte. Ein ungutes Gefühl keimte in Quinns Brust auf.
»Auch wenn wir sehr große Fortschritte gemacht haben, ist es dennoch wichtig, dass Sie Ihre Medizin weiter nehmen.«
»Ich soll die Pillen weiterhin nehmen?«, fragte Quinn. »Wie lange denn noch?«
»Ihr gesamtes Leben lang. Quinn, Sie wissen, dass wir Ihren Problemen tiefgründig auf den Zahn gefühlt haben, und ich bin überzeugt, eindeutige Ursachen dafür erkannt zu haben. Aber es gibt auch Grenzen bei einer Gesprächstherapie.«
»Alles, was ich brauche, ist mein Schaffen und Eve neben mir. Ich benötige die Pillen nicht mehr, glauben Sie mir.«
»Doch, benötigen Sie«, sagte der Therapeut. »Die Stimmen müssen für immer schweigen. Sie wollen doch keinen Rückfall riskieren?«
»Die Stimmen, ja, aber ich höre sie seit Jahren nicht mehr. Damit habe ich keine Probleme.«
»Weil Sie Ihre Medikamente genommen haben. Das ist ein Problem mit Ihrem Gehirn. Diese Stimmen stammten aus Ihrem Unterbewusstsein und haben Ihren Wunsch nach Anerkennung zum Ausdruck gebracht. Das muss der wahre Ursprung Ihrer Probleme sein, kein Zweifel, ich bin mir sicher! Das Unheil, das besiegt werden musste. Und diese Aufgabe, die Sie angeblich erfüllen mussten – die Stimmen haben doch alles erst in Gang gebracht, richtig? Die Neuroleptika sorgen dafür, dass Sie einen klaren Kopf behalten und keine Dinge wahrnehmen, die nicht existieren. Vergleichen Sie das mit einem Patienten, der unter zu hohem Blutdruck leidet und jeden Morgen eine kleine Pille schluckt, um diesen zu senken. Bei Ihnen ist es das Gleiche. Dadurch bleiben die Botenstoffe in Ihrem Gehirn im Gleichgewicht und verhindern weitere Wahnvorstellungen. Nehmen Sie Ihre Medikamente wie gehabt weiter.«
»Sie haben recht, da gibt es sicherlich Schlimmeres«, log Quinn, so überzeugend er konnte. Er brauchte die Pillen nicht mehr, Eve war seine Medizin. Die Medikamente blockierten nur seine Kreativität, und diese benötigte er nun dringend, wenn seine Pläne mit Eve erfolgreich sein sollten. Alle großen Künstler waren ein bisschen verrückt, ich bin da keine Ausnahme, dachte Quinn und verschwieg, dass er seine Medizin bereits letzten Monat für zwei Wochen abgesetzt hatte – ohne merkliche Probleme oder Gemütsveränderungen.
»Gut, ich denke, damit wäre hinsichtlich Ihrer Behandlung alles gesagt. Nicht vergessen – immer die Tabletten nehmen und im besten Fall großen Stress vermeiden; dann werden wir uns hoffentlich in nächster Zeit nicht wiedersehen.«
Nach einem kurzen Smalltalk standen beide auf und reichten sich die Hände zur Verabschiedung. Quinn fühlte sich befreit und blickte erwartungsvoll in die Zukunft.
Mit Elan trabte er die Stufen des Treppenhauses hinunter, verließ die Praxis und stieg in sein Auto, einen alten grünen Käfer. Mangelnder Komfort wurde stets durch Charme wieder wettgemacht. Die Kupplung klemmte wie immer, ein kräftiger Ruck reichte aber, um den Gang einzulegen. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten – bis auf den Verkehr. Quinn stand unerwartet in einem Stau, sein Käfer schlich bestenfalls wie eine Schnecke voran.
»Jetzt fahrt doch! Das darf nicht wahr sein!«, rief er den vorausfahrenden Autos hinterher.
Es ging mittlerweile bereits so lange nicht mehr voran, dass Quinn beinahe glaubte, in einer Parklücke zu stehen; nur der schmutzige Rauch aus dem Auspuff seines Vordermanns und das Hupkonzert hinter ihm erinnerten Quinn daran, sich tatsächlich im Straßenverkehr zu befinden.
Stau zu dieser Uhrzeit und in diese Richtung war ungewöhnlich, denn er entfernte sich vom Stadtzentrum; wenn überhaupt, müsste der Stau vormittags auf der entgegengesetzten Straßenseite sein – aber selbst das passierte selten. Der Verkehr stockte für gewöhnlich nur zur Rushhour oder wenn eine Baustelle eine Spur blockierte.
Quinn schaute durch die Windschutzscheibe nach oben und entdeckte mehrere Hubschrauber, die sich zielstrebig Richtung Stadtzentrum bewegten. Daneben flitzte ein vereinzelter Blitz über den Himmel. Ist mir irgendwas entgangen?, fragte er sich. Quinn wechselte am Autoradio vom CD-Player zum Radio. Möglicherweise würde er auf einem Sender mehr erfahren.
»Beobachtung … letzte Nacht …strophenschutz … Untersuchung … Sicherheitsvorkehrung«, hörte Quinn eine Nachrichtensprecherin sagen, bis lediglich ein schrilles Rauschen aus den Lautsprechern drang.
Quinn blickte nervös auf die Uhr am Armaturenbrett. Die Zeit tickte unaufhaltsam hinunter. Bei diesem Tempo war es unmöglich, pünktlich am vereinbarten Treffpunkt zu sein.
Das gefällt mir nicht, aber dann muss Eve die Wohnung allein besichtigen. Das geht hier einfach nicht voran. Ich ruf sie besser an und gebe Bescheid.
Quinn zückte sein Handy. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis Eves Nummer angewählt wurde.
»Quinn?«, fragte Eve am anderen Ende der Leitung und sagte noch etwas danach; der Empfang war schlecht, und Quinn verstand kaum ihre Worte.
»Eve, ich stecke im Verkehr fest. Besichtige die Wohnung ohne mich. Wir treffen uns später im Stadtpark.«
Bevor Quinn eine Antwort erhielt, brach der Empfang ab – die Leitung war tot. Quinn versuchte erneut, Eve anzurufen; ohne Erfolg. Aufgeregt trommelte er mit seinen flachen Händen auf das Lenkrad. Das ist doch nicht euer Ernst, dachte er genervt. Er wusste nicht, ob Eve seine letzten Worte mitbekommen hatte, und wollte nicht das Risiko eingehen, sie in dem Glauben zu lassen, er hätte sie versetzt.
Quinn blieb keine andere Wahl. Er setzte den Blinker nach links, fuhr auf die andere Straßenseite und suchte den nächstbesten freien Parkplatz. Er würde den restlichen Weg laufen müssen.
Kapitel 2
Wie ein Raubtier auf der Pirsch suchte Eric nach ordnungswidrig geparkten Fahrzeugen. Mit leeren Händen konnte er nicht zurückkehren; David würde ihm sonst vorwerfen, sich kaum angestrengt zu haben. Davids Vorwürfe wären durchaus gerechtfertigt, ihm aber egal. Das wahre Problem war ihr Chef, der nicht bemerken durfte, dass Eric in Wirklichkeit der faulste und unproduktivste Mitarbeiter im gesamten Betrieb war. Eric versuchte regelmäßig, seine Kollegen auszutricksen, damit sie seine Arbeit übernahmen – er sah sich selbst als geschickten Manipulator und Psychologen. Doch Eric hatte in letzter Zeit Fehler gemacht und befürchtete, die anderen könnten ihm langsam auf die Schliche kommen und ihn beim Chef anschwärzen. Daher musste Eric wenigstens vollen Einsatz simulieren und die Mindestanforderungen seines Jobs erfüllen.
Was für ein unfassbar hässliches Auto, dachte er, als er den ersten und gleichzeitig letzten Falschparker für heute entdeckte: einen alten grünen Käfer. Er parkte den Schlepper neben dem Käfer, fuhr seinen Kran aus und befestigte die Ketten an allen Reifen, um den Wagen auf seinen Schlepper zu heben. Auf den Verkehr musste er kaum achten; seine Spur war komplett frei, während die Gegenspur aus allen Nähten platzte.
Nachdem Eric den Käfer aufgeladen hatte, schaute er den Wagen verwundert an. Diese grüne Schrottmühle kannte er. Ist das Quinns Auto?, fragte er sich. Eric war zu Schulzeiten gut mit Quinn befreundet gewesen, aber nach ihrem Abschluss hatten sie sich auseinandergelebt und vor einigen Jahren war der Kontakt zwischen ihnen ganz abgebrochen. Der auffällige Kratzer am Heck bestätigte Erics Verdacht – das war Quinns Auto. Vergangene Freundschaft hin oder her, Eric musste den Wagen trotzdem abschleppen, um seine Minimalquote zu erfüllen. Andernfalls müsste er den Wagen wieder abladen und nach einem anderen Falschparker suchen, was zu viel Arbeit bedeutete und nicht infrage kam. Aber Eric plante immerhin, Quinn sofort anzurufen, damit er sein Auto heute Abend noch abholen konnte; dadurch würden wenigstens die Kosten geringer ausfallen.
Er holte sein Handy aus der Hosentasche, suchte Quinns Nummer in der Kontaktliste und hoffte, sie war noch aktuell. Doch der Empfang war gestört und Quinn nicht zu erreichen. In dem Fall kann ich leider nichts für dich tun, Alter, dachte er und zuckte mit den Schultern.
Eric stieg wieder in den Abschleppwagen ein und fuhr weiter Richtung Stadtzentrum. Es war zu früh, um zur Werkstatt zurückzukehren; daher beabsichtigte er, Zeit zu schinden, immer im Kreis zu fahren und Musik von seinem Mp3-Player zu hören – viel bequemer, als Quinns Käfer abzuladen und danach noch mal loszumüssen.
Ein die Straße blockierender Streifenwagen vereitelte seinen Plan. Ein Polizist schritt seinem Schlepper wie ein Sheriff entgegen. Hektisch blickte Eric im Rückspiegel in seine geröteten Augen.
Wenn ich meinen Lappen wieder verliere, kann ich meinen Job vergessen. Es läuft doch gerade so entspannt, dachte er.
Zu Beginn seiner Tour hatte er sich noch eine Tüte reingezogen, um seiner Stimmung ein wenig nachzuhelfen.
Na ja, ich sehe nicht allzu bekifft aus, entschied er.
Mit einer Handbewegung forderte der Polizist Eric auf, seine Fensterscheibe herunterzukurbeln.
»Hier ist leider Endstation. Die Straße ist gesperrt. Die Innenstadt wird geräumt. Also … hopp hopp!«
»Weshalb?«, fragte Eric. »Was ist los? Ich muss hier beruflich durch, im Auftrag der Stadt.«
»Und ich bin hier im Auftrag des Katastrophenschutzes. Also … hopp hopp!«, entgegnete der Polizist und schmatzte mit seinem Kaugummi.
»Der Katastrophenschutz? Haben Sie mal in den Himmel geguckt? Sonnenschein, wolkenfreier blauer Himmel … was für eine Katastrophe?« Eric richtete seine Hände wie nach einem Zaubertrick nach oben.
»Ich habe die Anweisung, niemanden in die Innenstadt zu lassen. Punkt. Und Sie werden dieser Anweisung folgen. Haben wir uns verstanden?« In der Stimme des Polizisten schwang ein drohender Unterton mit, und er lehnte sich mit seinen Ellbogen auf den Fensterrahmen.
»Okay, es gab einige komische Blitze, aber trotzdem … die Reaktion des Katastrophenschutzes scheint mir ein wenig überzogen zu sein. Jetzt sagen Sie mir schon, was hier vor sich geht!« Eric wusste sofort, nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, dass er sich etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.
»Sie parken Ihr Auto jetzt da vorne an der Seite, und dann verziehen Sie sich. Hopp hopp. Oder wir spielen das alte Führerschein-und-Fahrzeugpapiere-Spiel mit der Bonusrunde Drogenkontrolle. Ich denke nicht, dass das in Ihrem Interesse wäre.«
Eric stand auf verlorenem Posten. Mürrisch blickte er seinem Gegenüber entgegen. Die Art von Bullen kannte er nur zu gut. Jung, unerfahren und berauscht von Autorität. Als Eric die Uniform genauer betrachtete, entdeckte er, dass lediglich ein popeliger Verkehrspolizist vor ihm herumstolzierte; wahrscheinlich so ein Würstchen, das sich für den normalen Dienst nicht qualifizieren konnte – eine gehobene Politesse, hinter der leider das Gesetz stand.
Eric fügte sich widerwillig und folgte den Anweisungen.
Wie soll ich das nur David und später meinem Chef erklären?, fragte er sich.
Quinn erreichte den Stadtpark und atmete durch. Nachdem er seinen Käfer am Straßenrand geparkt hatte, war er durch ein Labyrinth unbekannter Straßen gehetzt, um die potenzielle Wohnung doch noch mitbesichtigen zu können. Vergeblich. Möglicherweise hätte er es schaffen können, doch sein Smartphone hatte kein Netz und somit funktionierte auch das Navi nicht. Er war froh, den Stadtpark überhaupt in einer passablen Zeit gefunden zu haben. Ortskenntnis hatte nie zu Quinns Stärken gezählt.
Quinn steuerte die alte Eiche im Zentrum des Parks an, wo er und Eve ihr erstes Date gehabt hatten und wo er sicher war, dass Eve dort auf ihn warten würde. Die Eiche stand jenseits eines grasbedeckten Hügels, und Quinn erblickte zunächst nur die verzwirbelte, aber lebhaft grüne Krone des Baumes, als er sich seinem Ziel näherte. Er fürchtete, lediglich die weiße Bank zwischen Kieselweg und Baumstamm vorzufinden; doch das Klicken eines Fotoapparates, einem rhythmischen Beat gleichend, zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und besänftigte seine Sorge, Eve unbeabsichtigt versetzt zu haben.
Eve hatte Quinn den Rücken zugewandt und fokussierte mit ihrer pinken Digicam die Vögel auf den Ästen. An ihren Bewegungen, die denen einer anmutigen Elfe glichen, erkannte er, dass Eve auf der Jagd nach dem perfekten Foto war und mit dem durch das Blattgewirr brechenden Sonnenlicht eine natürliche Beleuchtung des Bildes erreichen wollte. Das Sonnenlicht erfasste Eve dabei wie ein Scheinwerfer, als wäre sie ein Superstar, und ihr langes blondes Haar und ihr gelbes Sommerkleid entflammten kurz.
Eve war in ihrem Element. Im Gegensatz zu Quinn, der es mit Leinwand und Farbe eher klassisch mochte, spezialisierte sie sich auf moderne visuelle Medien wie Video und Fotografie. Sie studierte Mediendesign, arbeitete jedoch bereits an ihrer Abschlussarbeit.
Quinn konnte es sich nicht verkneifen, Eves Ablenkung auszunutzen, um sich von hinten an sie heranzuschleichen und sie liebevoll in die Seite zu zwicken. Auf Zehenspitzen näherte er sich Schritt für Schritt. Bevor er seinen latent heimtückischen Plan umsetzen konnte, wirbelte Eve herum und zwickte ihn in die Seite. Sie blickte ihn mit ihren saphirblauen Augen scharf an und presste ihre Lippen, die ihr charakteristischer gelber Lippenstift zierte, zusammen.
»Punkt eins«, sagte sie. »Selbst ein betrunkener Ninja mit Glöckchen an den Füßen würde sich geschickter anschleichen als du. Punkt zwei: Wie kannst du es eigentlich wagen? Wie? Mich einfach im Regen stehen zu lassen, beim Vermieter nicht aufzutauchen und dann noch diese Anmaßung, mich hinterrücks und kindisch erschrecken zu wollen. Dir scheint unsere gemeinsame Zukunft ja nicht sonderlich am Herzen zu liegen!« Eve kreuzte die Arme.
»Was? Nein … das ist nicht wahr. Der Verkehr war schuld, ich kam nicht voran … Aber ich hab mir die letzte Woche unzählige Gedanken über mögliche Konzepte gemacht. Ich stecke meine gesamte Energie in die Agentur, das ist doch selbstverständlich!« Quinn schaute zu Eve und hoffte, in ihrem finsteren Blick Verständnis für ihn zu entdecken. Eve antwortete ihm nicht und zog die Mundwinkel nach unten, dann aber fing sie an zu lächeln.
»Ich mach doch nur Spaß«, sagte sie. »Du bist so einfach aufzuziehen. Ich war selbst zu spät beim Vermieter, weil die Straßenbahn durch den Verkehr nicht vorankam und ich ’ne halbe Stunde in der Bahn saß. Das wollt ich dir auch am Telefon noch sagen, aber dann ist die Verbindung abgebrochen. Hab dann nur noch verstanden, ich solle irgendwo hinkommen, wo wir uns treffen. Wir haben also beide den Termin versemmelt … obwohl es ja eindeutig nicht unsere Schuld war!« Grinsend hob sie den Zeigefinger.
»Lass so was, Eve. Ich hasse es, wenn du ständig Spielchen mit mir spielst! Ich dachte wirklich kurz, du wärst stinksauer auf mich.«
»Du machst es einem aber manchmal auch ein wenig zu einfach. Aber ich bin auch eine begnadete Schauspielerin«, sagte Eve mit einem Augenzwinkern. »Entschuldige, wenn ich dich verärgert habe. Ich kümmere mich um einen neuen Termin mit dem Vermieter.«
»Also das ist wirklich das Mindeste«, sagte Quinn und küsste Eve auf die Lippen. »Irgendwie ein seltsamer Tag heute. Stockender Verkehr, kein Netz, das Radio funktioniert nicht. Was ist denn nur los?«
»Was es auch ist, es vermiest uns nicht den Tag!«, erwiderte Eve und hakte sich bei ihm ein. »Lass uns eine Runde spazieren gehen. Das Wetter ist wunderschön heute. Außerdem bin ich auf dein Konzept gespannt, von dem du mir erzählen wolltest.«
Sie spazierten durch den Park; er spürte, wie sie den Körperkontakt suchte.
»Wie war der Termin bei deinem Therapeuten? Bist du durch? Ist die Behandlung zu Ende?«
»Ich habe das Prädikat ›geistig gesund‹ erhalten. Es ist vorbei, ich habe es hinter mir.«
»Und was ist mit den Pillen?«, hakte Eve nach. »Kannst du sie gefahrlos absetzen? Ich weiß, du hast ein Problem damit, sie zu nehmen, aber, Quinn, ich hatte in der Vergangenheit auch ein Problem, als du sie noch nicht genommen hast. Du wärst beinahe einer dieser Öko-Terroristen vom Grünen Patron geworden.«
»Die Pillen, ja, die brauch ich nicht mehr. Alles ist gut. Mach dir keine Sorgen, meine kreativen Blockaden sind dann hoffentlich auch Geschichte. Ich habe jetzt bereits unendlich viele neue Ideen im Kopf.« Seiner Meinung nach log er Eve nicht direkt an, da seine Worte gewissermaßen der Wahrheit entsprachen. Er war der festen Überzeugung, er bräuchte die Pillen nicht mehr. Nach der tatsächlichen ärztlichen Empfehlung hatte Eve immerhin nicht gefragt.
»Das freut mich, ich bin glücklich, das endlich hinter uns lassen zu können. Dann bin ich aber auch gespannt. Was für ein Konzept hast du entwickelt?« Eve hatte die Angewohnheit, bei Fragen den Kopf leicht zur Seite zu neigen und sich etwas nach vorne zu beugen. Quinn fand diese Geste niedlich, auch wenn sie ihm zu Beginn ein wenig schräg vorgekommen war.
»Pass auf, das Motto meines Konzeptes ist: das Unbekannte!« Quinn enthüllte den unsichtbaren Titel mit seinen Händen in der Luft.
»Das Unbekannte? Was meinst du damit? Was soll das für ein Motto sein?«
»Du erinnerst dich bestimmt an mein Gemälde Verblassende Sterne?«
»Ich liebe dieses Gemälde, ja, insbesondere dass du bis auf einige goldene Lichtpunkte in der rechten unteren Ecke fast alles vollständig in Schwarz gehalten hast«, sagte Eve. »Diese Lichtpunkte sind aber schwach, und sie erstrahlen nicht, sondern erlöschen wie sterbende Sterne. Also handelt das Bild vom Tod, von etwas, das endet?«
»Richtig, aber das Gemälde handelt genauso von etwas, das beginnt, und somit nicht nur vom Tod, sondern auch vom Leben. Das ist das Unbekannte – wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen.«
»Aus rein künstlerischer Sicht sind deine Werke beeindruckend«, meinte Eve, »keine Frage, aber mir ist nicht klar, wie wir dieses Konzept für unsere Agentur verwenden können. Du weißt, wir befassen uns an sich mit Kommunikation, ja, mit Werbung, auch wenn sie für die gute Sache ist. Das muss von den Menschen, die wir damit erreichen wollen, verstanden werden.«
»Damit magst du womöglich nicht falschliegen. Jedes meiner Bilder ist ein Geheimnis, das der Betrachter nicht sofort verstehen kann, wenn überhaupt. Darum geht es auch nicht, es geht nicht um Verständnis, sondern um Gefühle.«
»Und wie stellst du dir vor, dein Konzept als Werbung umzusetzen?«, fragte Eve.
»Du kennst doch dieses Hilfswerk, das Essen kostenfrei an Bedürftige ausgibt. Ich meine den Laden, wo wir letztes Jahr auch schon mal waren. Ich habe letztens erst gelesen, dass diese Einrichtung kurz vor dem Aus steht. Die Spendengelder sind auf ein Rekordtief gesunken. Warum? Viele haben es noch nie nötig gehabt, die Abfälle der Supermärkte zu durchwühlen. Hunger ist ihnen per se unbekannt. Diese Leute müssen wir ansprechen, und das geht mit Kunst. Ich werde eine Kampagne entwickeln, die das Gefühl des Hungerns ausdrückt, was sich für den Betrachter der Kampagne womöglich unangenehm anfühlen wird. In der zweiten Kampagnenphase werden wir dann den Bezug zum Hilfswerk herstellen und den Menschen eine Möglichkeit bieten, durch ihre Unterstützung dieses unangenehme Gefühl zu mindern. Wie ich das alles gestalte, weiß ich noch nicht, aber die Ideen werden mir in nächster Zeit schon zufliegen, wenn ich meine Pillen abgesetzt habe.«
»Gut, dein Ansatz ist durchaus innovativ und vor allem idealistisch, das gefällt mir, aber dieses Konzept kannst du keiner Bank verkaufen. Wir brauchen immerhin einen Kredit. Lass uns anfangs laut sein, Aufmerksamkeit auf uns ziehen und uns einen Namen machen. Dein Konzept läuft ja nicht weg. Das ist dann eher so was wie unser neuster Streich, mit dem wir alle überraschen werden.«
»Banken?«, fragte Quinn. Die Vögel auf dem nächstgelegenen Baum krächzten, bis sie allesamt scheinbar empört davonflatterten. »Eve, wir kennen Robert, er wird uns schon einen Kredit besorgen. Mach dir keine Gedanken, ich habe das alles von vorne bis hinten durchdacht. Ich dachte, du …«
Ein dumpfer Knall unterbrach ihr Gespräch und hallte einige Sekunden nach. Der Boden vibrierte. Eve blickte sich verwirrt um. Sie erschrak, als ein toter Vogel vor ihren Füßen aufschlug, und klammerte sich instinktiv an Quinn. Wenige Meter entfernt fielen weitere Vögel leblos vom Himmel.
Quinn schaute nach oben und entdeckte die mysteriösen Blitze, die er bereits am Morgen beobachtet hatte. Lang gestreckt wie gleißende Aale zogen sie ihre Bahnen in Richtung des Stadtzentrums – und vermehrten sich.
»Ich habe das Gefühl, dass hier gerade eine neue Inspirationsquelle für deine Kunst entstehen könnte«, sagte Eve trocken.
Robert beobachtete angespannt den Himmel und grübelte über die eigenwilligen Blitze nach, die sich im Tagesverlauf merklich häuften; die ungerechte Behandlung seines Chefs war für den Moment vergessen. Einige seiner Arbeitskollegen standen neben ihm am Fenster und verfolgten neugierig das Schauspiel.
»Hast du auch diesen dumpfen Knall gehört?«, sagte Lisa. »Das war bestimmt einige Kilometer entfernt, aber die Fenster haben trotzdem … na ja … gezittert. Und der Himmel ist wolkenfrei, das ist doch kein gewöhnliches Gewitter.«
»Das habe ich auch gespürt«, erwiderte Robert. »Das muss mit diesen Blitzen zusammenhängen! Außerdem, sind dir die ganzen Hubschrauber in der Luft aufgefallen? Was ist da denn los? Was suchen die?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lisa. »Wie auch? Nichts funktioniert! Mein Freund wohnt im Stadtzentrum, aber ich erreiche ihn nicht. Das Internet ist tot, und im Fernsehen läuft nur Schnee. Mittlerweile mache ich mir richtig Sorgen.«
»Ach, das wird nicht der Weltuntergang sein«, sagte Robert, »aber ich bin trotzdem auf die Erklärung gespannt. Die Technik wird bestimmt bald wieder funktionieren, dann wissen wir mehr.«
»Ich frage mich trotzdem, was da vor sich geht. So etwas habe ich nie zuvor erlebt. Normalerweise verhält sich das Wetter anders. Wir kennen alle die jährlichen Sommerorkane und Winterblizzards, aber das ist mal was Neues.«
»Ja, für ein natürliches Wetterphänomen wirklich eigenartig. Ich frage mich, wie natürlich das tatsächlich ist. Die Blitze bewegen sich anscheinend systematisch und haben alle das gleiche Ziel: das Stadtzentrum. Vielleicht steckt der Mensch dahinter.« Robert fiel das Neo-greyTek-Institut ein mit dessen geheimer Forschung im Kern.
»Stimmt, die Flugbahn der Blitze folgt einem System, aber mir würde nichts einfallen, was das auslösen könnte.«
»Keine Ahnung, vielleicht gibt es irgendwo in der Stadt etwas, das diese Blitze provoziert«, sagte Robert. »Irgendwas, das Elektrizität gezielt anzieht.«
»Aber was soll da schon Großartiges sein?«, konterte Lisa. »Ich glaube kaum, dass es in der Stadt einen Laden gibt, der überdimensionale Teslaspulen oder so verkauft.«
»Keiner weiß, was Neo-greyTek all die Jahre mit dem Teilchenbeschleuniger angestellt hat. Aber wahrscheinlich können wir noch den restlichen Tag über die Ursachen spekulieren und werden trotzdem nicht auf die Lösung kommen. Vermutlich ist die wahre Ursache schlussendlich etwas ganz anderes.«
Quinn und Eve schlenderten auf dem Weg zu Quinns Käfer den Bürgersteig entlang. Eve hatte sich im Park unbehaglich gefühlt; die toten Vögel und die Blitze beunruhigten sie, und sie bevorzugte es, den restlichen Tag in ihrer Wohnung zu verbringen. Dort würde Quinn sie sicherlich von seinem Konzept überzeugen können; seine Idee musste er nur bei ihr sacken lassen. Eve würde ihn unterstützen, er war nicht besorgt, dass sie ihn enttäuschen würde.
»Was ist bloß vorhin mit den Vögeln passiert?«, fragte Eve. »Das ist ziemlich schräg.«
»Plötzliches Vogelsterben ist ein Phänomen, das öfter mal vorkommt, beispielsweise in Schweden«, sagte Quinn und erinnerte sich an einen Artikel, den er vor einiger Zeit gelesen hatte.
»Und was war dafür verantwortlich?«, fragte Eve.
»Da ist sich die Wissenschaft noch nicht einig. Vielleicht hängt es mit dem Magnetfeld zusammen. Vögel navigieren doch damit. Womöglich haben sie durch eine Magnetfeldstörung die Orientierung verloren und sind abgestürzt. Die eigenartigen Blitze sind vielleicht so eine Art … ähm … Lichtreflexion des Magnetfeldes?«
»Das scheint mir etwas weit hergeholt zu sein. Wie erklärst du dir den dumpfen Knall? Das war womöglich ein Düsenjet, der die Schallmauer durchbrochen hat, und die Vögel haben davon einen Schock gekriegt.«
»Und dann sind sie vor Schreck gestorben?«, hakte Quinn nach. »Das ergibt auch keinen Sinn, außerdem, wie erklärst du dir die Blitze?«
»Wer sagt denn, dass der Knall und die Blitze zusammenhängen? Was, wenn beides nichts miteinander zu tun hatte und das nur reiner Zufall war?«
»Das wäre aber ein ganz schön dicker Zufall, meinst du nicht auch?«
»Was auch dahintersteckt, werden wir morgen früh in den Nachrichten erfahren«, sagte Eve.
Sie näherten sich den Parkbuchten neben der Straße, aufmerksam hielt Quinn nach seinem Käfer Ausschau. Er entdeckte ihn aus der Ferne nicht, glaubte zunächst, dass ein anderes Auto vermutlich nur die Sicht verdeckte. Als er seine Parklücke erreichte, blieb er ratlos stehen und blickte auf den Asphalt hinab – sein Käfer war fort.
»Alles in Ordnung?«, fragte Eve.
»Augenblick, ich habe doch hier geparkt, oder irre ich mich da? Nein, das war hier, ich bin mir ganz sicher!«
»Du hast hier geparkt?«, fragte Eve, als sie auf die vermeintliche Parklücke zeigte. »Direkt da vorne?«
»Mein Auto wurde gestohlen! Wer stiehlt denn so eine alte Karre? Ich stand doch an der Hauptstraße, warum hat niemand die Polizei gerufen? Das Türschloss wurde bestimmt geknackt, und danach muss der Dieb den Wagen kurzgeschlossen haben. Ist niemandem aufgefallen, dass hier ein Auto gestohlen wurde?« Quinn verstummte, doch dann fiel ihm ein: »Verdammt, meinen Wagen muss man gar nicht kurzschließen. Ich hab einen Ersatzschlüssel unter der Sonnenklappe versteckt. Aber wer würde da schon suchen? Augenblick, wahrscheinlich hab ich sogar vergessen abzuschließen. Ich war heute Mittag in Eile, nachdem ich geparkt habe. Mist … so ein verdammter Mist!«
»Du wurdest abgeschleppt«, sagte Eve nüchtern.
»Ich wurde was? Das kann nicht sein.«
»Du warst beim Parken unaufmerksam. Du hast die Einfahrt hier übersehen. Siehst du das Schild da vorne, PARKEN VERBOTEN?« Eve verkniff sich ein Lachen. »Übrigens, wenn ich ein Auto stehlen würde, wäre die Sonnenklappe der erste Ort, an dem ich nach dem Schlüssel suchen würde.«
Quinn legte seinen Arm um Eve und lief mit ihr die Straße entlang. »Dann werden wir heute wohl die Straßenbahn nehmen müssen.«
Kapitel 3
Bekackter Saftladen! Ich hätte das wie Quinn machen sollen, meinem Traum folgen und mein Ding durchziehen. Weshalb sollte ich nicht kündigen und ins Handwerk gehen? Etwas herstellen, das ich anfassen und auf das ich stolz sein kann. Gut, das würde einem sozialen Abstieg gleichen, aber ist sozialer Abstieg wirklich so schlimm?
Robert fuhr seinen Computer herunter und packte seine Sachen zusammen. Nachdem er seine Aufmerksamkeit von den Blitzen abgewandt hatte, war all der Unmut gegenüber seinem Chef und seinem Job zurückgekehrt.
»Robert, gehst du schon? Feierabend ist erst in drei Stunden«, sagte Lisa neben ihm am Schreibtisch mit einem merklich entsetzten Unterton in ihrer Stimme.
»Mein Überstundenkonto explodiert beinahe, und wenn ich dafür schon nicht finanziell entlohnt werde, dann werde ich nun die mir zustehende Freizeit einlösen. Das ist mein gutes Recht.« Robert schloss seinen Aktenkoffer absichtlich laut.
»Aber hast du die Vorausrechnungen für die nötigen Budgets im kommenden Quartal schon fertig? Ich brauch die Zahlen heute noch für meinen Prognosebericht.«
»Nein«, antwortete Robert klar und deutlich und ließ durch seinen Tonfall keinen Zweifel, dass sie die Zahlen heute nicht mehr von ihm erhalten würde.
»Aber wenn ich den Bericht dem Chef heute nicht vorlege, wird er mir den Kopf abreißen. Ich bin schon eine Woche im Verzug, aber ich konnte noch nicht daran arbeiten, da war so viel anderer Kram vorher zu erledigen. Robert, du musst bleiben!«
»Das ist mir egal, dein Bericht ist nicht mein Problem. Außerdem sind dafür im Büro noch genügend andere fähige Mitarbeiter. Alle Dateien für die Vorausrechnung sind im Intranet freigegeben. Ich mache jetzt Feierabend und gehe nach Hause. Meine Bahn kommt gleich, ich muss los. Der Tag war verrückt genug; ich werde ganz bestimmt nicht schon wieder die halbe Nacht im Büro verbringen!«
Er stand auf und ging, ohne zurückzublicken.
Quinn und Eve saßen sich in der Straßenbahn gegenüber; die Polster der Sitze waren schmutzig und voller Risse und Löcher, die Fenster waren großflächig mit Graffitis beschmiert, und der Boden klebte an ihren Füßen.
»Der Innenraum der Bahn ist so eklig. Wenn wir bei mir sind, werde ich erst mal heiß duschen, ich will gar nicht wissen, in was für Keimen wir gerade sitzen.« Eve rieb ihre Hände mit Desinfektionsmittel ein, das sie immer in ihrer gelben Umhängetasche dabeihatte. Anschließend kratzte sie sich am Hinterkopf.
»Keime?«, sagte Quinn, lehnte sich zu Eve und zupfte in ihrem Haar. »Das sieht mir eher nach Läusen aus. Aber keine Sorge, ich entlause dich schon. Außerdem habe ich einen Mordshunger. Wo haben sich die kleinen Snacks versteckt?«
»Ich bin doch kein Affe«, sagte Eve und drückte Quinn zurück auf seinen Sitz. »Und das ist nicht lustig, ich wäre nicht verwundert, wenn man sich hier tatsächlich Läuse einfängt.«
»Ich mache doch nur Spaß, jedenfalls bis auf den Punkt mit dem Mordshunger. Hast du noch was zu essen da?«
»Oh je, das sieht in meinem Kühlschrank ganz düster aus. Aber ich habe eine super Idee! Du springst an der übernächsten Haltestelle raus und holst uns was vom Bio-King!«
»Aber da gibt es doch nur Salat!«
»Quinn, dein Körper ist wie ein Tempel. Behandele ihn auch so, außerdem kann ich mich dann in der Zwischenzeit zu Hause frisch machen und bin in allerbester Laune, wenn du kommst.« Eve hob mit einem verschmitzten Lächeln zweimal ihre Augenbrauen.
»In Ordnung, überzeugt, Körper wie Tempel, du bekommst deinen Salat.«
Die Bahn hielt wenig später, und Eve verabschiedete sich mit einem Kuss von Quinn. Nachdem er an der Haltestelle ausgestiegen war, entdeckte er Robert in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug, der durch die Gläser seiner mit einem dicken schwarzen Gestell umrandeten Brille den Fahrplan las.
»Schickes Outfit. Kommst du gerade aus deinem Pinguin-Club?«, sagte Quinn. Robert ähnelte mit seinen dunklen, nach hinten gegelten Haaren eher dem Buchhalter eines Mafioso als einem Banker.
»Hey, Quinn, kennst ja die Kleiderordnung in dem Laden. Mit unserem Skater-Outfit von früher kann ich da nicht auftauchen.«
»Immerhin hast du eine gute Position erreicht und es von allen am weitesten gebracht.«
»Ja … ich kann mich wirklich … glücklich schätzen.«
»Hast du meinen Kreditantrag eigentlich schon bearbeitet?«, fragte Quinn. »Wann können Eve und ich mit dem Geld rechnen? Sobald Eve ihren Abschluss hat, wollen wir beide durchstarten.«
»Was den Kredit angeht, ich habe mir das angeschaut, und … geduldet euch noch etwas … die Mühlen bei uns mahlen langsam«, wich Robert Quinns Frage aus.
»Aber du lässt mich nicht hängen, ja?«, hakte Quinn nach. »Der Kredit ist wichtig für uns.«
»Sicher, ich halte dich auf dem Laufenden. Aber was verschlägt dich eigentlich hierher? Bist du auf die Straßenbahn umgestiegen?«
»Mein Käfer wurde heute Mittag abgeschleppt, mir bleibt leider keine andere Wahl. Ich will Eve und mir nur was zu essen holen.«
»Du wurdest abgeschleppt? Weswegen?«, fragte Robert.
Quinn senkte stöhnend den Kopf. »Das war selten dämlich. Ich war spät dran, musste schnell irgendwo parken und habe mich vor eine Einfahrt gestellt, hab das einfach übersehen. Aber besser so, als wenn der Wagen geklaut worden wäre.«
»Versteckst du den Ersatzschlüssel eigentlich immer noch hinter der Sonnenklappe?«
»Da weiß ich wenigstens, wo er notfalls ist«, antwortete Quinn.
»Und was machst du, wenn du deinen Schlüssel verlierst und das Auto abgeschlossen ist?«, fragte Robert skeptisch.
»Jetzt stell doch meine Logik nicht infrage, du bist ja schlimmer als Eve.«
»Wie wäre es, wenn du auch noch deine Fahrzeugpapiere im Handschuhfach unterbringst? Du willst es den Autodieben doch nicht zu schwer machen. Spaß beiseite, sind dir eigentlich schon diese Blitze heute aufgefallen?«
Eric lief genervt die Straße entlang. Er wusste nicht, wie er zügig zur Werkstatt zurückkommen sollte. Sein Handy hatte keinen Empfang, und ein Taxi war weit und breit nicht zu sehen. Wenigstens funktionierte sein Mp3-Player noch, und er hörte laute Rockmusik, zu deren Beat er rhythmisch nickte.
Als er am Bio-King vorbeilief, erinnerte er sich, dass die nächste Straßenbahnhaltestelle ganz in der Nähe war. Eric blieb stehen, um sich zu orientieren. Ein Blick auf die Straße genügte, um die Bahnschienen zu erkennen, denen er einfach folgen musste.
Er bemerkte, dass die Menschen auf dem Gehweg nach oben schauten. Die ungewöhnlichen Blitze schlängelten sich über den Himmel, in langen Zickzacklinien, wie die Kondensstreifen von Flugzeugen, nur schmaler und grell strahlend. Gegen Mittag waren es nur eine Handvoll Blitze gewesen, doch ihre Anzahl war mittlerweile drastisch angestiegen, und die Fußgänger beobachteten nervös das Geschehen über ihnen. Ein Hubschrauber nach dem anderen rauschte über ihre Köpfe hinweg; sie flogen tief, und Menschen beugten sich heraus.
Ein Blitz schoss in eine Gasse wenige Meter von Eric entfernt herab; sekundenlang blieb die Verbindung zwischen Himmel und Boden bestehen, und ein greller Lichtstrahl balancierte zwischen zwei Gebäuden, bis der Blitz verpuffte und daraufhin blaues Licht aus der Gasse strahlte.
Eric blinzelte ein paarmal und rieb sich die Augen. Bilde ich mir das gerade ein?, fragte er sich und näherte sich vorsichtig der Gasse. Sie führte in einen kleinen Hof, der von einigen Wohnhäusern umgeben war. Eric sah drei ellipsenförmige Gebilde in der Luft schweben, als wären drei Fenster in eine andere Realität geöffnet worden. Das blaue Licht stammte von der Umrandung der Gebilde, einem gleißenden Rahmen, den Blitze wie ein schnell umherschlängelnder Stacheldrahtzaun umwickelten. Innerhalb entdeckte Eric einen dichten Wald, in einem anderen eine öde Wüstenlandschaft und im letzten einen flachen Ozean, aus dem vereinzelt spitze Felsnadeln ragten. Doch eines hatten alle gemeinsam – die Hügelkette in der Ferne. Eric erkannte an der Form, dass es die Hügelkette außerhalb der Stadt war, deren Abhang er letzten Sommer mit seinem Mountainbike hinuntergeheizt war.
Das ist der gleiche Ort, realisierte er. Nur irgendwie doch nicht.
Die vermeintlichen Portale wuchsen, als breite sich eine Wunde in der Realität aus. Eric roch Morgentau, daraufhin juckte Sand in seinen Augen, und eine frische Meeresbrise blies ihm entgegen. Bevor er die widersprüchlichen Sinneseindrücke einordnen konnte, berührten sich die Portale und verschwanden mit einem kurzen Zischen, begleitet von dünnen Blitzen, die sich zügig auflösten.
Eric erblickte inmitten des Hofes eine junge Frau, die die Portale zuvor verdeckt hatten. Er zog den Kopfhörer aus seinem linken Ohr und starrte sie an. Sie war kreidebleich und zitterte am gesamten Körper; ihr Gesicht zeichneten Kratzer und Schrammen; sie schien an den Rippen verletzt, denn ihre Hände waren blutverschmiert und ein scharlachroter Fleck drang durch ihr grünes Kleid. Die junge Frau humpelte Eric entgegen, sie war mit ihren Kräften sichtlich am Ende und versuchte, sich auf Eric zu stützen, als ihre Beine nachgaben. Anstatt sie aufzufangen, wich Eric einen Schritt zurück. Er trug seine neue Lederjacke und wollte auf unschöne Blutflecke verzichten. Die junge Frau fiel und knallte mit ihrem Kopf auf den Asphalt.
Einige der anderen Passanten bemerkten das Geschehen. Zwei Männer eilten zu Hilfe, stießen Eric zur Seite und halfen der jungen Frau auf. Einer der Männer sagte zu Eric: »Mach Platz, du Idiot. Du stehst im Weg!«
Eric fühlte sich beleidigt, seiner Meinung nach hatte er keinen Fehler gemacht.
»Geht es Ihnen gut? Was ist passiert?«, fragte einer der Männer die verletzte Frau. Sie wirkte verstört und brauchte einen Augenblick, bis sie antwortete.
»Da war dieser helle Blitz … und dann … dann …«, stotterte sie.
»Was war dann? Was ist passiert?«, fragte der andere Mann.
»Ich wollte nur mit meinem Hund Gassi gehen«, sagte die junge Frau. »Dann dieser Lichtblitz, und die Stadt war plötzlich verschwunden … nur noch Wüste … dann hat mich etwas angegriffen.«
»Was hat Sie angegriffen?«
Die junge Frau starrte den Mann apathisch an, als würde sie nicht begreifen, worüber er sprach; anschließend wandte sie ihren Blick nach unten und bemerkte ihre Verletzung.
»Blut? Ist das mein Blut? Und wo ist mein Hund? Wo ist mein Hund hin?« Sie blickte hektisch nach rechts und links.
Auf dem Boden entdeckte Eric eine Blutspur, die vom Hof aus bis zur Häuserfassade reichte und selbst die Wände bis zum Dach beschmierte.
Bevor Eric mehr erkennen konnte, lenkte ihn ein Donnern ab. Der Boden vibrierte, und der Lärm dröhnte ausdauernd nach; die Luft elektrisierte sich, und feine Blitze flitzten umher. Eric rannte auf die Straße, um die Ursache des Lärms zu lokalisieren, konnte jedoch nichts erkennen. Alle blickten sich um, doch der Lärm kam von überall. Das Dröhnen nahm langsam ab, und die Situation normalisierte sich – aber nur kurz.
Eric registrierte ein ratterndes Geräusch, wie ein monströser Schluckauf, der immer lauter wurde. Ein Helikopter näherte sich von oben und taumelte herab in Richtung Straße. Im Cockpit erblickte Eric den Piloten, dessen Gesichtsausdruck Panik und Angst zeichneten. Der Mann zog den Steuerknüppel nach hinten und versuchte, das Fluggerät zu stabilisieren – erfolglos. Schwarzer Rauch drang aus dem Heckrotor, kurz darauf drehte sich der Hubschrauber wild im Kreis und näherte sich bedrohlich dem Boden. In der Luft entdeckte Eric weitere Helikopter mit dem gleichen Problem – verletzte Libellen, die unter den Wolken strauchelten. Eric wich zurück, floh gemeinsam mit den anderen Fußgängern. Er drehte sich flüchtig um und sah den Hubschrauber auf die Straße schmettern. Die Rotorblätter verbogen sich, und das Cockpit kratzte über den Asphalt.
Die Türen der Straßenbahn standen noch offen, doch Robert stieg nicht ein, sondern schaute verunsichert zu Quinn.
»Was ist das für ein Lärm? Dieses Dröhnen und dieser Krach?« Robert hob seine Augenbrauen, sodass sich seine Stirn kräuselte.
Quinn blickte in den Himmel. »Schau, die Blitze werden immer intensiver. Wo kommen die auf einmal alle her?«
Ein Wolkenkleid umgab die Blitze und breitete sich wie ein Taubenschwarm über der Stadt aus; schnell verwandelte sich das Weiß der Wolken in Schwarz und hüllte das Firmament in Finsternis; die Gebäude färbten sich grau, trostlos und trist. Komplexe Strukturen durchwanderten die dunkle Wolke, als wären sie gleißend helle Blutadern, die ein monströses Ungetüm am Himmel zum Leben erweckten. Das Wolkenmassiv begann wie das Wasser um einen Strudel langsam zu rotieren. Aus dem Schlund schimmerte bläuliches Licht, doch aufgrund Quinns schlechten Blickwinkels konnte er nicht erkennen, was sich jenseits des Tornadotrichter-ähnlichen Wolkengebildes verbarg. Die Blitze zogen darin ihre Kreise und trotzten allen physikalischen Gesetzen. Quinn hörte erneut dieses Donnern, gefolgt von spürbar vibrierender Luft. Die Wolken drehten sich schneller, ein lauteres Krachen ließ die Luft erbeben, und der Strudel beschleunigte weiter. Donner auf Donner folgte – in immer kürzeren Abständen, wie ein aufbrausender Trommelwirbel – und heizte die Rotation an, bis die Wolken um die eigene Achse rasten.
Passanten liefen in Panik über den Bürgersteig und die vierspurige Hauptstraße und suchten Deckung; einige flüchteten in Geschäfte, andere rannten weiter geradeaus. Als die Menschenmenge sie passierte, schritten Quinn und Robert zurück und fanden in der überdachten Haltestelle Schutz. Unzählige verunsicherte Gesichter huschten an ihnen vorbei; eines dieser Gesichter kannten sie: Es war Eric, der überrascht bei Robert und Quinn stoppte.
Die Wolkenrotation über dem Stadtzentrum stoppte abrupt, und die Blitze erstarrten, aber pulsierten sanft. Quinn blickte der Naturgewalt entgegen, hoffte, das Schlimmste wäre überstanden und das Phänomen würde bald enden und sich auflösen. Doch die lauernden Blitze entluden die angestaute Elektrizität auf die Straßen. Elektrische Speere donnerten auf den Asphalt, schlugen tiefe Löcher in den Boden, als brächte ein rachsüchtiger Gott in seinem Zorn Unheil über die Menschheit. Die Leute rannten unkoordiniert über die Straße und versuchten, den Blitzen auszuweichen. Als die ersten Passanten getroffen wurden, die tausend Grad heiße Elektrizität sie innerhalb einer Sekunde zu Asche pulverisierte und sie buchstäblich zu einem Nichts verdampften, brach endgültig pures Chaos aus.
»In die Bahn, schnell!«, schrie Quinn, der hoffte, die Straßenbahn würde sie wie ein Faraday’scher Käfig vor den Blitzen schützen. Eric und Robert folgten Quinns Anweisung und hechteten in den ersten der drei Waggons.
Die Bahn war beinahe leer, bis auf den Lokführer und zwei weitere Passagiere.
»Schließen Sie die Tür!«, rief Quinn dem Lokführer zu, der keine Sekunde zögerte.
Wie eine Flutwelle überschwemmten Blitze die gesamte Umgebung. Ein gleißender Rammbock donnerte durch die Straßen, erfasste Gebäude, parkende Autos und die Bahn. Menschen unter freiem Himmel waren chancenlos. Die Baumreihe am Straßenrand fing Feuer, genährt durch die trockenen Blätter, wodurch die Äste lichterloh brannten. Der Umgebungsanstrich wandelte sich in ein Wechselspiel von Schwarz und Rot. Die Bahn jedoch schützte die Insassen vor dem Blitzgewitter und zwang sie, das Schauspiel machtlos mit anzusehen.
Als von den Menschen draußen nur noch Staub zurückgeblieben war, als das Geschrei verstummte und Stille folgte, stoppte das elektrische Bombardement. Quinn blickte nervös aus dem Fenster.
Das Gebäude gegenüber der Bahn veränderte sich; es war ein altes Wohnhaus, dessen Putz bereits abbröckelte und feine Risse durchfrästen – eine gründliche Sanierung war bitter nötig. Die Fenster hatten Rundbögen, die wie strahlende Augen wirkten, und die Fassade darunter zierten Tierornamente. Zunächst krümmten sich die Wände leicht, als würde man in einen verbogenen Spiegel schauen; anschließend zitterte die Fassade, und die feste Struktur der Wände veränderte sich, weichte auf, als bestände das Mauerwerk aus Knete. Quinn glaubte einen Augenblick, ein Gemälde aus Pastellfarben zu betrachten. All die Makel des Gebäudes verschwanden; der Putz erneuerte sich, als würde sich die Fassade verjüngen und von dem schleichenden Verfall geheilt werden. Das Wohnhaus erweckte nun den Eindruck, erst vor Wochen errichtet worden zu sein. Aber so blieb es nicht lange. Die Wände wurden wieder marode, faulten dahin, und kurz darauf blickte Quinn auf eine Ruine. Doch auch diese Veränderung dauerte nur wenige Sekunden an; schnell entwickelte sich das Gebäude in seine ursprüngliche Form zurück, nur um sich dann aufs Neue wieder zu verändern und den gesamten Vorgang zu wiederholen. Ein surrealer Tanz des Unmöglichen.
»Was passiert da gerade?«, fragte Quinn, unfähig, eine rationale Erklärung für das Gesehene zu finden.
Als er daraufhin zum Heckfenster der Bahn blickte, entdeckte er weitere Blitze, die sich anfangs als wachsender Lichtpunkt aus dem Nichts bildeten; ein Blitzgebilde wie ein wirbelnder Mopp entstand geschätzte hundert Meter entfernt und schwebte träge über der Straße. Die neuen Blitze breiteten sich aus, vereinten sich dabei und wandelten ihre Gestalt in einen aus weißen Flammen bestehenden Leviathan. Die davon berührten Gebäude veränderten sich wie das gegenüber der Bahn, durchlebten den gleichen Zyklus aus Verfall und Modernisierung.
Quinn zeigte mit dem Finger auf die nahende Bedrohung, mehr als ein Stottern brachte er nicht über die Lippen. Die Blitzgestalt schnellte auf die Bahn zu, als hätte ein hungriges Ungetüm ein hilfloses Beutetier ausgemacht.
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Quinn streichelte seinen kratzigen Dreitagebart, stand in einem Wust dreckiger Wäsche und schaute in den Spiegel seines Wandschrankes. Das knarzende Radio ignorierend begutachtete er konzentriert sein Aussehen. Sein mittellanges blondes Strubbelhaar lag gut, aber nicht zu perfekt, sodass es immer noch einen Hauch Chaos ausstrahlte. Er pustete eine Haarsträhne aus seinem Gesicht und ließ den Blick nach unten wandern, um die bisherige Auswahl seiner Kleidung zu betrachten. Quinn trug ein grün kariertes Hemd, wobei die gewöhnlichen Knöpfe durch Smiley-Knöpfe ersetzt worden waren, die Quinn angrinsten und denen er mit einem breiten Grinsen antwortete.
Quinn besaß nicht sonderlich viel Kleidung, aber jedes seiner Kleidungsstücke schmückte ein besonderes Merkmal, das er selbst anfertigte. Seien es Aufnäher mit beispielsweise zerfließenden Uhren darauf oder auch übertrieben große Manschettenknöpfe in der Form von Gitarren, aufgespannten Regenschirmen oder vierblättrigen Kleeblättern.
Sein Blick flitzte ans hintere Ende seiner kleinen Zweizimmerwohnung, wo das aufgehende Sonnenlicht seine drei Staffeleien und den Lack seiner Farbtöpfe küsste, die daraufhin herausfordernd schimmerten.
Doch er war mit seiner Kunst seit längerer Zeit unzufrieden, was nicht nur an den kreativen Blockaden lag, die er hoffte bald überwinden zu können. Als Illustrator kam Quinn zwar einigermaßen über die Runden, doch sein Geld verdiente er ausschließlich mit Auftragsarbeiten. Meist Werbeanzeigen, die nichts mit kreativer Selbstverwirklichung gemein hatten, für Produkte, die seiner Meinung nach niemand wirklich benötigte.
Seine Freundin Eve teilte seine Leidenschaft für das Außergewöhnliche und stand seit Jahren hinter ihm – in guten wie in schlechten Zeiten. Quinn und Eve hatten gemeinsam einen Plan geschmiedet, um die nächsten Jahre nicht von Luft und Liebe leben zu müssen – ihre eigene kleine Kreativagentur. Quinn wollte keine Werbung mehr für Banken, Fast Food oder Billigkleidung entwerfen, sondern vielmehr für Unternehmen, mit denen er auf einer Wellenlänge lag wie gemeinnützige Vereine, Umweltschützer oder Non-Profit-Organisationen. Mit Eve zusammen gegen den Rest der Welt!, dachte er hoffnungsvoll.
Um dieses Projekt zu ermöglichen, benötigten sie jedoch neben dem Startkapital zunächst einen Unternehmenssitz, für den ihre erste gemeinsame Wohnung herhalten sollte. Warum hat sich Eve nur all die Zeit gesträubt, mit mir zusammenzuziehen?, fragte er sich, obwohl er die Antwort insgeheim erahnte. Aber sie hatte endlich auf sein Drängen hin eingewilligt, und beide trafen sich heute um halb eins mit einem Vermieter.
Vor diesem Termin musste Quinn jedoch noch einen anderen Termin absolvieren, um das schwerste Kapitel seines Lebens abzuschließen. Bevor er sich in den morgendlichen Verkehr der Großstadt stürzen würde, schnappte er sich vom Boden die nächstbeste, einigermaßen gut riechende Jeans, zog seine abgetragenen Schuhe an und ging ins Bad. Quinn öffnete den Spiegelschrank und holte eine Tablettendose heraus, schluckte wie jeden Morgen eine Pille und atmete durch.
Das war es, nie wieder, ich werde das nie wieder brauchen. Ich bin gesund, das Unheil … nein, es ist nicht echt.
Der antik anmutende Röhrenfernseher, der in der Werkstatt auf einem maroden Holztischchen stand, zeigte nur Schnee. Eric fummelte an der Antenne herum, bog sie hin und her, doch der Empfang verbesserte sich kein Stück. Mit seiner flachen Hand klopfte er leicht gegen den Bildschirm, was auch nicht half. Daraufhin packte Eric den handlichen Apparat und schüttelte ihn.
»Warum? Was soll das? Du blödes Mistding!«, fluchte er, setzte sich auf eine Kiste und starrte in die Röhre, auf die flackernde Herde schwarzer und weißer Schafe. Mit seiner Faust schlug er mehrfach auf das Gerät, jeder Schlag begleitet von einem energischen »Komm schon!«.
»Dir ist schon klar, dass das absolut nichts bringt?«, sagte sein Arbeitskollege David, der zwischen Tür und Angel aus dem Nichts aufgetaucht war. »Der Empfang ist gestört. Nimm doch gleich die Zange da drüben und schlag damit auf ihn ein. Geht schneller, wenn du das Teil kaputt machen willst.« David zeigte an die Wand, wo zahlreiche von Rostinseln bedeckte Schraubendreher, Zangen und Gabelschlüssel hingen.
Eric schaute mürrisch zu dem groß gewachsenen Mann mit dem kurzen Strohhaar, der den gleichen blauen Overall wie er selbst trug. »Sei ruhig! So einen neunmalklugen Kommentar kannst du dir sparen. Die Wiederholung von Synthese fängt gleich an, aber alle Sender sind tot! Ich muss die Wiederholung unbedingt gucken, andernfalls werde ich gespoilert, sobald ich zu Hause online gehe und mich ins Fanforum einlogge. Die letzte Folge endete mit einem krassen Cliffhanger, weißt du.«
»Du könntest auch einfach nicht online gehen«, erwiderte David. »Doch wenn du Glück hast, funktioniert das Internet dann auch nicht, ich kann seit Stunden meine Mails nicht abrufen.« Er wedelte mit seinem Smartphone herum. »Aber du weißt schon, dass du eigentlich arbeiten solltest? Du willst dir stattdessen ernsthaft diese dumme Serie reinziehen?«
»Habe ich mir so gedacht. Es gibt gerade sowieso nichts zu tun, und wenn, kann ich Arbeit und Fernsehen durchaus kombinieren. Ich bin ein Multitasking-Genie!«
»Manchmal frage ich mich, warum du hier überhaupt noch angestellt bist.« David schüttelte seinen Kopf.
»Das ist einfach«, sagte Eric und lächelte. »Ich bin eben ein unfassbar charmanter Kerl.«
»Ich stimme zu, dass du unfassbar bist. Nichtsdestotrotz muss einer den Abschleppwagen nehmen und ins Zentrum fahren. Du kennst unseren Deal mit der Stadt. Die Kassen sind leer, und wir sollen jeden Falschparker abschleppen. Daran verdienen beide. Diesen Monat haben wir unsere Quote noch nicht erfüllt. Jemand sollte sich einfach mal draußen umsehen. Der Chef wird stinksauer sein, wenn er aus dem Urlaub zurück ist.«
»Aber der Chef ist nicht da. Das können wir auch morgen oder Ende der Woche machen. Kein Stress, wir werden schon nicht pleitegehen, wenn der Abschleppwagen heute in der Garage bleibt. Aber ich zwing dich zu nichts, wenn du unbedingt loswillst. Wir sehen uns dann später. Wünsche dir eine gute Fahrt!« Eric wandte seinen Blick dem Fernseher zu.
»Na ja, allerdings muss der Van noch ausgeschlachtet werden«, sagte David. »Das ist eigentlich meine Aufgabe, aber das müsstest du dann übernehmen, wenn ich unterwegs bin. Davor wirst du dich nicht drücken können. Das muss heute fertig werden, und außer uns ist keiner da!«
Eric blickte zu der heruntergelassenen Hebebühne, auf der ein schwarzer Van stand, den getrocknete Ölflecken auf dem Betonboden umgaben, und wieder zurück zum Fernseher. Er rümpfte die Nase und roch den Kupfergeruch, den er stets mit Arbeit assoziierte. Ein letztes Mal klopfte er gegen die Seite des Apparates – nichts geschah. Eric gab sich geschlagen und akzeptierte, seine Serie heute zu verpassen. Somit gab es keinen Grund mehr, in der Werkstatt zu bleiben, insbesondere da er sich dann dem Van widmen müsste. Das ist anstrengende körperliche Arbeit!, dachte er. Erics Arbeitsweise folgte dem Prinzip des minimalen Aufwandes, daher bevorzugte er eine ruhige Fahrt in das Stadtzentrum, bei der er lediglich nach Falschparkern Ausschau halten musste.
»Augenblick!«, sagte Eric. »David, du hast vollkommen recht. Mein Arbeitseinsatz sollte, nein, er muss sogar weitaus höher sein. Ich werde die Tour für dich übernehmen!«
»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte David und warf seinem Arbeitskollegen die Schlüssel zu.
Eric stand auf, streifte sich seine braune Lederjacke über und machte sich auf den Weg.
Rendite. Mehr Rendite. Wie soll ich das nur anstellen? Was denkt sich der Chef nur? Diese Jahresziele sind nicht zu erreichen. Hat er die Analystenpapiere überhaupt gelesen? Natürlich nicht, und am Ende des Tages ist alles wieder mein Fehler!
Robert starrte angestrengt auf seinen Bildschirm. Er gähnte, sein Kiefer knackte dabei, und seine Gesichtsmuskulatur schmerzte, was ihn einen Augenblick von dem Stechen hinter seinen Augen ablenkte. Die Nacht war viel zu kurz und sein Schlaf wie so oft unruhig gewesen. Sein rechtes Auge zuckte hinter dem schwarzen Brillengestell, als er auf die Akten und Ordner schaute, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, dort Stellung bezogen hatten und ihn umzingelten. In den Unterlagen waren lauter Zahlen vermerkt, die er noch prüfen musste, wodurch er – ein weiteres Mal – erst spät nach Hause kommen würde.
Nur noch ein Jahr, dann bin ich hier weg und such mir was anderes. Robert, vergiss nicht, das ist nur ein Sprungbrett. Aber fürs Erste brauch ich die Berufserfahrung und das Geld. Wenigstens Letzteres stimmt.
Er wollte gerade zum ersten Mal an diesem Morgen an seinem Kaffee nippen, als sein Chef Herr Hoffman wie ein tobender Bulle die Bürotür aufriss. Hoffmans Bauch quoll über seinen viel zu engen Gürtel. Er schwitzte; die Deckenbeleuchtung spiegelte sich auf seiner Glatze, und Schweißflecken durchtränkten sein teures Hemd an den Achseln. Roberts Vorgesetzter kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander und atmete kräftig ein und aus. Robert ahnte, dass ihm gleich mächtig Ärger bevorstünde – er kannte diesen Blick, und er bedeutete nichts Gutes.
»Sehe ich eigentlich aus wie ein Tierparkwärter? Denn ich glaube, vor mir sitzt kein Mitarbeiter, sondern ein Esel! Sie haben doch nicht ernsthaft den Kredit für diese Maulwürfe freigegeben?« Hoffman kam ihm unangemessen nahe, wodurch sein beißender Mundgeruch Roberts Nase quälte. Robert erstarrte eine Sekunde wie ein Reh nachts auf der Straße vor den heranrasenden Scheinwerfern eines Autos. Er spürte die Blicke seiner Arbeitskollegen im Büro deutlich, als würden sie amüsiert einer Hinrichtung beiwohnen.
»Sie … Sie sprechen von Neo-greyTek und dem Kern?«, antwortete Robert zaghaft und lehnte sich mit seinem Oberkörper nach hinten. »Ja … richtig, ich habe den Kreditantrag genehmigt, weil … weil Neo-greyTek verglichen mit unseren anderen Kunden die beste Bonität aufweist.«
»Was interessiert mich die Bonität?«, maulte Roberts Chef. »Ich will zum Quartalsende Rendite auf unserem Konto sehen! Wie soll ich diese Entscheidung vor dem Vorstand rechtfertigen? Sagen Sie es mir!«
Roberts Stimme wurde immer dünner. »Das … sollte nur ein Bestandteil eines Portfolios sein. Neo-greyTek als langfristige Investition könnte andere Kreditausfälle ausgleichen … in einigen Jahren. Insbesondere nachdem die Aktienkurse von Ambyous eingebrochen sind. Ich dachte, eine sichere Renditeaussicht für die Zukunft wäre ein stabiler Eckpfeiler für die Bank.«
»Sie dachten? Sie sollen nicht denken, Sie sollen machen! Haben Sie sich die Geschäftsberichte von Neo-greyTek durchgelesen? Der Bau und die Konzeption des Kerns haben bereits Unsummen verschlungen. Und seit Jahren forschen sie unter der Erde mit ihrem Teilchenbeschleuniger herum und haben bis heute keinerlei Ergebnisse veröffentlicht. Niemand weiß, was die da unten veranstalten!«
»N… nein, das ist so nicht richtig. Gerüchten zufolge wird Neo-greyTek dieses Geschäftsjahr eine Pressekonferenz abhalten und Ergebnisse präsentieren. Neo-greyTek war schon immer ein innovatives Forschungsinstitut. Wenn sie in die Forschung investiert haben, werden sie sicherlich mit bahnbrechenden neuen Technologien zur Energiegewinnung aufwarten, die sie monetarisieren und von denen auch wir profitieren werden. Es wird einen Grund geben, weswegen sie all die Jahre geschwiegen haben. Ich denke, Neo-greyTek schützt seine Ideen lediglich vor der Konkurrenz.«
Hoffman schwieg und dachte augenscheinlich über Roberts Argumentation nach. Robert erkannte in dem Schweigen, dass er einen guten Punkt angeführt hatte, den sein Chef nicht abstreiten konnte. Er wusste aber auch, dass sein Chef dies niemals zugeben würde.
»Schön, dann will ich hoffen, dass Ihr Plan aufgeht. Und das sollten insbesondere auch Sie hoffen. Verstehen wir uns? Nichtsdestotrotz haben Sie bis zum Quartalsende Ihre Renditeziele zu verdoppeln. Es ist mir egal, wie Sie das anstellen, tun Sie es einfach!«
Wie kann er es wagen, mir wegen meiner Entscheidung noch mehr Arbeit aufzudrücken?, dachte Robert. Bin ich der einzige Mitarbeiter hier? Ich habe meine Arbeit gut gemacht. Dieser inkompetente Idiot ohne Geschäftssinn und Weitsicht. Wie hat er eigentlich diesen Job gekriegt? Das war doch reine Vetternwirtschaft. Dieses dumme, fette Schwein!
»Selbstverständlich, ich werde mich sofort an die Arbeit machen. Sie werden nicht enttäuscht von mir sein!«, sagte er tatsächlich.
»Das will ich Ihnen auch geraten haben, mein Freundchen!«, sagte Roberts Chef und streckte ihm drohend seinen Zeigefinger entgegen, bevor er das Büro mit einem Türknall verließ.
Robert hatte gelogen, denn er machte sich nicht sofort an die Arbeit, sondern nahm seine Kaffeetasse in die Hand, stand auf und schaute aus dem Bürofenster. Es war früh, die Sonne erhob sich gerade erst über den Gebäuden und färbte den unteren Teil des wolkenfreien Himmels rötlich und die Dächer golden. Er hoffte, sich durch den Ausblick aus der zweiunddreißigsten Etage zu beruhigen, doch die leer stehenden Büros des Nachbargebäudes, in denen höchstens noch einige Hausbesetzer herumlungerten, schürten in ihm die Angst, dass seiner Bank das gleiche Schicksal drohte, verursacht durch die wirtschaftlich kurzsichtige Führung ihres Managements. Er atmete tief durch und versuchte, seine Verärgerung zu verbergen. Er wollte die Fassade aufrechterhalten, seinen Chef zu respektieren und sämtliche ihm aufgetragenen Aufgaben gehorsam zu erledigen.
Ein heller Blitz raste am Fenster vorbei und riss Robert aus seinen Gedanken. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Gewitterblitzen, die sofort wieder verschwanden, war dieses Lichtphänomen anders. Roberts Blick folgte dem Blitz einige Sekunden, und er bemerkte, dass sich dieser zielgerichtet auf das Stadtzentrum zubewegte.
Er drehte sich zu seinen Kollegen um und fragte verdutzt: »Habt ihr das gerade auch gesehen? Diesen Blitz?«
Sie lösten unisono den Blick von ihren Bildschirmen und schauten Robert fragend an.
»Ein Blitz?«, sagte seine Kollegin Lisa. »Robert, sieh dir den Himmel an. Es ist ein sonniger Morgen. Das war vermutlich nur eine Spieglung im Fenster eines gegenüberliegenden Gebäudes. Jetzt steh da nicht blöd in der Gegend rum, sondern erledige deine Aufgabe. Ich habe keine Lust, dass der Chef noch mal hier reinstürmt. Nachher steht noch einer von uns anderen auf seiner Abschussliste.«
Robert drehte sich wieder um und beobachtete den Himmel, erkannte aber nichts Außergewöhnliches. Eigenartig, dachte er.
Quinn saß in der Praxis seines Psychotherapeuten Herrn Meyer in einem schwarzen Ledersessel und beugte sich nach vorne. Sein Gegenüber schaute zu ihm, ein Blick, der Quinn zu durchdringen schien – Meyers Haar war grau meliert, und er trug einen grün-rot karierten Pullover. Der Therapeut schlug die Beine übereinander und hielt wie immer einen Notizblock in den Händen, voller Anmerkungen, die Quinn nie zu Gesicht bekam. An den Wänden hingen zahlreiche Diplome und Zertifikate; sie erzeugten in Quinn Vertrauen und versicherten ihm, in guten Händen zu sein. Ein glänzender Glastisch trennte sie voneinander und wahrte den Abstand zwischen Arzt und Patient; darauf klickte ein Kugelpendel hin und her und gab den Takt wie ein Metronom vor.
»Ich bin wirklich glücklich, heute hier mit Ihnen zu sitzen«, sagte Herr Meyer. »Ihre Fortschritte sind beeindruckend, Quinn. Ich glaube, wir haben den Ursprung des Unheils hinlänglich ergründet.«
»Und dafür danke ich Ihnen«, sagte Quinn. »Ich bin mittlerweile überzeugt, dass kein Unheil über mich oder die Menschen hereinbrechen wird und dass die Stimmen, die mich davor gewarnt haben, keiner höheren Macht entsprungen sind.«
»Ich bin froh über Ihre Einsicht«, sagte Herr Meyer. »Es läuft mir immer noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, dass die Stimmen Sie dazu motiviert haben, sich diesen Öko-Terroristen anzuschließen.«
»Die Sache mit dem Grünen Patron, das war dumm, ja, doch die Stimmen haben mich immer nur vor Unheil gewarnt, aber nie konkret gesagt, wovor genau und wie ich es aufhalten kann. Der Grüne Patron hat mir mit seinem Kampf gegen Ambyous eine einfache Antwort geboten.«
»Die Geschichte hat gezeigt, dass es die falsche Antwort gewesen ist«, sagte der Therapeut in ernstem Ton. »Auch wenn Ambyous damals rücksichtslos die Umwelt geschädigt hat, ist das noch lange keine Rechtfertigung für die Taten des Grünen Patrons.«
»An dem Anschlag war ich aber nicht beteiligt«, sagte Quinn und hob seine Hände. »Trotzdem, ich war an anderen Aktionen beteiligt, bei denen Menschen zu Schaden kamen, und auf dem Höhepunkt meines Wahns habe ich selbst Eve verletzt.«
»Aber das war schlussendlich nötig, damit Sie sich Hilfe gesucht haben und nun die Therapie heute erfolgreich abschließen.«
Herr Meyer öffnete daraufhin die Schublade eines Schränkchens neben ihm, woraus er eine Tablettendose hervorholte und sie vor Quinn auf den Tisch stellte. Ein ungutes Gefühl keimte in Quinns Brust auf.
»Auch wenn wir sehr große Fortschritte gemacht haben, ist es dennoch wichtig, dass Sie Ihre Medizin weiter nehmen.«
»Ich soll die Pillen weiterhin nehmen?«, fragte Quinn. »Wie lange denn noch?«
»Ihr gesamtes Leben lang. Quinn, Sie wissen, dass wir Ihren Problemen tiefgründig auf den Zahn gefühlt haben, und ich bin überzeugt, eindeutige Ursachen dafür erkannt zu haben. Aber es gibt auch Grenzen bei einer Gesprächstherapie.«
»Alles, was ich brauche, ist mein Schaffen und Eve neben mir. Ich benötige die Pillen nicht mehr, glauben Sie mir.«
»Doch, benötigen Sie«, sagte der Therapeut. »Die Stimmen müssen für immer schweigen. Sie wollen doch keinen Rückfall riskieren?«
»Die Stimmen, ja, aber ich höre sie seit Jahren nicht mehr. Damit habe ich keine Probleme.«
»Weil Sie Ihre Medikamente genommen haben. Das ist ein Problem mit Ihrem Gehirn. Diese Stimmen stammten aus Ihrem Unterbewusstsein und haben Ihren Wunsch nach Anerkennung zum Ausdruck gebracht. Das muss der wahre Ursprung Ihrer Probleme sein, kein Zweifel, ich bin mir sicher! Das Unheil, das besiegt werden musste. Und diese Aufgabe, die Sie angeblich erfüllen mussten – die Stimmen haben doch alles erst in Gang gebracht, richtig? Die Neuroleptika sorgen dafür, dass Sie einen klaren Kopf behalten und keine Dinge wahrnehmen, die nicht existieren. Vergleichen Sie das mit einem Patienten, der unter zu hohem Blutdruck leidet und jeden Morgen eine kleine Pille schluckt, um diesen zu senken. Bei Ihnen ist es das Gleiche. Dadurch bleiben die Botenstoffe in Ihrem Gehirn im Gleichgewicht und verhindern weitere Wahnvorstellungen. Nehmen Sie Ihre Medikamente wie gehabt weiter.«
»Sie haben recht, da gibt es sicherlich Schlimmeres«, log Quinn, so überzeugend er konnte. Er brauchte die Pillen nicht mehr, Eve war seine Medizin. Die Medikamente blockierten nur seine Kreativität, und diese benötigte er nun dringend, wenn seine Pläne mit Eve erfolgreich sein sollten. Alle großen Künstler waren ein bisschen verrückt, ich bin da keine Ausnahme, dachte Quinn und verschwieg, dass er seine Medizin bereits letzten Monat für zwei Wochen abgesetzt hatte – ohne merkliche Probleme oder Gemütsveränderungen.
»Gut, ich denke, damit wäre hinsichtlich Ihrer Behandlung alles gesagt. Nicht vergessen – immer die Tabletten nehmen und im besten Fall großen Stress vermeiden; dann werden wir uns hoffentlich in nächster Zeit nicht wiedersehen.«
Nach einem kurzen Smalltalk standen beide auf und reichten sich die Hände zur Verabschiedung. Quinn fühlte sich befreit und blickte erwartungsvoll in die Zukunft.
Mit Elan trabte er die Stufen des Treppenhauses hinunter, verließ die Praxis und stieg in sein Auto, einen alten grünen Käfer. Mangelnder Komfort wurde stets durch Charme wieder wettgemacht. Die Kupplung klemmte wie immer, ein kräftiger Ruck reichte aber, um den Gang einzulegen. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten – bis auf den Verkehr. Quinn stand unerwartet in einem Stau, sein Käfer schlich bestenfalls wie eine Schnecke voran.
»Jetzt fahrt doch! Das darf nicht wahr sein!«, rief er den vorausfahrenden Autos hinterher.
Es ging mittlerweile bereits so lange nicht mehr voran, dass Quinn beinahe glaubte, in einer Parklücke zu stehen; nur der schmutzige Rauch aus dem Auspuff seines Vordermanns und das Hupkonzert hinter ihm erinnerten Quinn daran, sich tatsächlich im Straßenverkehr zu befinden.
Stau zu dieser Uhrzeit und in diese Richtung war ungewöhnlich, denn er entfernte sich vom Stadtzentrum; wenn überhaupt, müsste der Stau vormittags auf der entgegengesetzten Straßenseite sein – aber selbst das passierte selten. Der Verkehr stockte für gewöhnlich nur zur Rushhour oder wenn eine Baustelle eine Spur blockierte.
Quinn schaute durch die Windschutzscheibe nach oben und entdeckte mehrere Hubschrauber, die sich zielstrebig Richtung Stadtzentrum bewegten. Daneben flitzte ein vereinzelter Blitz über den Himmel. Ist mir irgendwas entgangen?, fragte er sich. Quinn wechselte am Autoradio vom CD-Player zum Radio. Möglicherweise würde er auf einem Sender mehr erfahren.
»Beobachtung … letzte Nacht …strophenschutz … Untersuchung … Sicherheitsvorkehrung«, hörte Quinn eine Nachrichtensprecherin sagen, bis lediglich ein schrilles Rauschen aus den Lautsprechern drang.
Quinn blickte nervös auf die Uhr am Armaturenbrett. Die Zeit tickte unaufhaltsam hinunter. Bei diesem Tempo war es unmöglich, pünktlich am vereinbarten Treffpunkt zu sein.
Das gefällt mir nicht, aber dann muss Eve die Wohnung allein besichtigen. Das geht hier einfach nicht voran. Ich ruf sie besser an und gebe Bescheid.
Quinn zückte sein Handy. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis Eves Nummer angewählt wurde.
»Quinn?«, fragte Eve am anderen Ende der Leitung und sagte noch etwas danach; der Empfang war schlecht, und Quinn verstand kaum ihre Worte.
»Eve, ich stecke im Verkehr fest. Besichtige die Wohnung ohne mich. Wir treffen uns später im Stadtpark.«
Bevor Quinn eine Antwort erhielt, brach der Empfang ab – die Leitung war tot. Quinn versuchte erneut, Eve anzurufen; ohne Erfolg. Aufgeregt trommelte er mit seinen flachen Händen auf das Lenkrad. Das ist doch nicht euer Ernst, dachte er genervt. Er wusste nicht, ob Eve seine letzten Worte mitbekommen hatte, und wollte nicht das Risiko eingehen, sie in dem Glauben zu lassen, er hätte sie versetzt.
Quinn blieb keine andere Wahl. Er setzte den Blinker nach links, fuhr auf die andere Straßenseite und suchte den nächstbesten freien Parkplatz. Er würde den restlichen Weg laufen müssen.
Kapitel 2
Wie ein Raubtier auf der Pirsch suchte Eric nach ordnungswidrig geparkten Fahrzeugen. Mit leeren Händen konnte er nicht zurückkehren; David würde ihm sonst vorwerfen, sich kaum angestrengt zu haben. Davids Vorwürfe wären durchaus gerechtfertigt, ihm aber egal. Das wahre Problem war ihr Chef, der nicht bemerken durfte, dass Eric in Wirklichkeit der faulste und unproduktivste Mitarbeiter im gesamten Betrieb war. Eric versuchte regelmäßig, seine Kollegen auszutricksen, damit sie seine Arbeit übernahmen – er sah sich selbst als geschickten Manipulator und Psychologen. Doch Eric hatte in letzter Zeit Fehler gemacht und befürchtete, die anderen könnten ihm langsam auf die Schliche kommen und ihn beim Chef anschwärzen. Daher musste Eric wenigstens vollen Einsatz simulieren und die Mindestanforderungen seines Jobs erfüllen.
Was für ein unfassbar hässliches Auto, dachte er, als er den ersten und gleichzeitig letzten Falschparker für heute entdeckte: einen alten grünen Käfer. Er parkte den Schlepper neben dem Käfer, fuhr seinen Kran aus und befestigte die Ketten an allen Reifen, um den Wagen auf seinen Schlepper zu heben. Auf den Verkehr musste er kaum achten; seine Spur war komplett frei, während die Gegenspur aus allen Nähten platzte.
Nachdem Eric den Käfer aufgeladen hatte, schaute er den Wagen verwundert an. Diese grüne Schrottmühle kannte er. Ist das Quinns Auto?, fragte er sich. Eric war zu Schulzeiten gut mit Quinn befreundet gewesen, aber nach ihrem Abschluss hatten sie sich auseinandergelebt und vor einigen Jahren war der Kontakt zwischen ihnen ganz abgebrochen. Der auffällige Kratzer am Heck bestätigte Erics Verdacht – das war Quinns Auto. Vergangene Freundschaft hin oder her, Eric musste den Wagen trotzdem abschleppen, um seine Minimalquote zu erfüllen. Andernfalls müsste er den Wagen wieder abladen und nach einem anderen Falschparker suchen, was zu viel Arbeit bedeutete und nicht infrage kam. Aber Eric plante immerhin, Quinn sofort anzurufen, damit er sein Auto heute Abend noch abholen konnte; dadurch würden wenigstens die Kosten geringer ausfallen.
Er holte sein Handy aus der Hosentasche, suchte Quinns Nummer in der Kontaktliste und hoffte, sie war noch aktuell. Doch der Empfang war gestört und Quinn nicht zu erreichen. In dem Fall kann ich leider nichts für dich tun, Alter, dachte er und zuckte mit den Schultern.
Eric stieg wieder in den Abschleppwagen ein und fuhr weiter Richtung Stadtzentrum. Es war zu früh, um zur Werkstatt zurückzukehren; daher beabsichtigte er, Zeit zu schinden, immer im Kreis zu fahren und Musik von seinem Mp3-Player zu hören – viel bequemer, als Quinns Käfer abzuladen und danach noch mal loszumüssen.
Ein die Straße blockierender Streifenwagen vereitelte seinen Plan. Ein Polizist schritt seinem Schlepper wie ein Sheriff entgegen. Hektisch blickte Eric im Rückspiegel in seine geröteten Augen.
Wenn ich meinen Lappen wieder verliere, kann ich meinen Job vergessen. Es läuft doch gerade so entspannt, dachte er.
Zu Beginn seiner Tour hatte er sich noch eine Tüte reingezogen, um seiner Stimmung ein wenig nachzuhelfen.
Na ja, ich sehe nicht allzu bekifft aus, entschied er.
Mit einer Handbewegung forderte der Polizist Eric auf, seine Fensterscheibe herunterzukurbeln.
»Hier ist leider Endstation. Die Straße ist gesperrt. Die Innenstadt wird geräumt. Also … hopp hopp!«
»Weshalb?«, fragte Eric. »Was ist los? Ich muss hier beruflich durch, im Auftrag der Stadt.«
»Und ich bin hier im Auftrag des Katastrophenschutzes. Also … hopp hopp!«, entgegnete der Polizist und schmatzte mit seinem Kaugummi.
»Der Katastrophenschutz? Haben Sie mal in den Himmel geguckt? Sonnenschein, wolkenfreier blauer Himmel … was für eine Katastrophe?« Eric richtete seine Hände wie nach einem Zaubertrick nach oben.
»Ich habe die Anweisung, niemanden in die Innenstadt zu lassen. Punkt. Und Sie werden dieser Anweisung folgen. Haben wir uns verstanden?« In der Stimme des Polizisten schwang ein drohender Unterton mit, und er lehnte sich mit seinen Ellbogen auf den Fensterrahmen.
»Okay, es gab einige komische Blitze, aber trotzdem … die Reaktion des Katastrophenschutzes scheint mir ein wenig überzogen zu sein. Jetzt sagen Sie mir schon, was hier vor sich geht!« Eric wusste sofort, nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, dass er sich etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.
»Sie parken Ihr Auto jetzt da vorne an der Seite, und dann verziehen Sie sich. Hopp hopp. Oder wir spielen das alte Führerschein-und-Fahrzeugpapiere-Spiel mit der Bonusrunde Drogenkontrolle. Ich denke nicht, dass das in Ihrem Interesse wäre.«
Eric stand auf verlorenem Posten. Mürrisch blickte er seinem Gegenüber entgegen. Die Art von Bullen kannte er nur zu gut. Jung, unerfahren und berauscht von Autorität. Als Eric die Uniform genauer betrachtete, entdeckte er, dass lediglich ein popeliger Verkehrspolizist vor ihm herumstolzierte; wahrscheinlich so ein Würstchen, das sich für den normalen Dienst nicht qualifizieren konnte – eine gehobene Politesse, hinter der leider das Gesetz stand.
Eric fügte sich widerwillig und folgte den Anweisungen.
Wie soll ich das nur David und später meinem Chef erklären?, fragte er sich.
Quinn erreichte den Stadtpark und atmete durch. Nachdem er seinen Käfer am Straßenrand geparkt hatte, war er durch ein Labyrinth unbekannter Straßen gehetzt, um die potenzielle Wohnung doch noch mitbesichtigen zu können. Vergeblich. Möglicherweise hätte er es schaffen können, doch sein Smartphone hatte kein Netz und somit funktionierte auch das Navi nicht. Er war froh, den Stadtpark überhaupt in einer passablen Zeit gefunden zu haben. Ortskenntnis hatte nie zu Quinns Stärken gezählt.
Quinn steuerte die alte Eiche im Zentrum des Parks an, wo er und Eve ihr erstes Date gehabt hatten und wo er sicher war, dass Eve dort auf ihn warten würde. Die Eiche stand jenseits eines grasbedeckten Hügels, und Quinn erblickte zunächst nur die verzwirbelte, aber lebhaft grüne Krone des Baumes, als er sich seinem Ziel näherte. Er fürchtete, lediglich die weiße Bank zwischen Kieselweg und Baumstamm vorzufinden; doch das Klicken eines Fotoapparates, einem rhythmischen Beat gleichend, zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und besänftigte seine Sorge, Eve unbeabsichtigt versetzt zu haben.
Eve hatte Quinn den Rücken zugewandt und fokussierte mit ihrer pinken Digicam die Vögel auf den Ästen. An ihren Bewegungen, die denen einer anmutigen Elfe glichen, erkannte er, dass Eve auf der Jagd nach dem perfekten Foto war und mit dem durch das Blattgewirr brechenden Sonnenlicht eine natürliche Beleuchtung des Bildes erreichen wollte. Das Sonnenlicht erfasste Eve dabei wie ein Scheinwerfer, als wäre sie ein Superstar, und ihr langes blondes Haar und ihr gelbes Sommerkleid entflammten kurz.
Eve war in ihrem Element. Im Gegensatz zu Quinn, der es mit Leinwand und Farbe eher klassisch mochte, spezialisierte sie sich auf moderne visuelle Medien wie Video und Fotografie. Sie studierte Mediendesign, arbeitete jedoch bereits an ihrer Abschlussarbeit.
Quinn konnte es sich nicht verkneifen, Eves Ablenkung auszunutzen, um sich von hinten an sie heranzuschleichen und sie liebevoll in die Seite zu zwicken. Auf Zehenspitzen näherte er sich Schritt für Schritt. Bevor er seinen latent heimtückischen Plan umsetzen konnte, wirbelte Eve herum und zwickte ihn in die Seite. Sie blickte ihn mit ihren saphirblauen Augen scharf an und presste ihre Lippen, die ihr charakteristischer gelber Lippenstift zierte, zusammen.
»Punkt eins«, sagte sie. »Selbst ein betrunkener Ninja mit Glöckchen an den Füßen würde sich geschickter anschleichen als du. Punkt zwei: Wie kannst du es eigentlich wagen? Wie? Mich einfach im Regen stehen zu lassen, beim Vermieter nicht aufzutauchen und dann noch diese Anmaßung, mich hinterrücks und kindisch erschrecken zu wollen. Dir scheint unsere gemeinsame Zukunft ja nicht sonderlich am Herzen zu liegen!« Eve kreuzte die Arme.
»Was? Nein … das ist nicht wahr. Der Verkehr war schuld, ich kam nicht voran … Aber ich hab mir die letzte Woche unzählige Gedanken über mögliche Konzepte gemacht. Ich stecke meine gesamte Energie in die Agentur, das ist doch selbstverständlich!« Quinn schaute zu Eve und hoffte, in ihrem finsteren Blick Verständnis für ihn zu entdecken. Eve antwortete ihm nicht und zog die Mundwinkel nach unten, dann aber fing sie an zu lächeln.
»Ich mach doch nur Spaß«, sagte sie. »Du bist so einfach aufzuziehen. Ich war selbst zu spät beim Vermieter, weil die Straßenbahn durch den Verkehr nicht vorankam und ich ’ne halbe Stunde in der Bahn saß. Das wollt ich dir auch am Telefon noch sagen, aber dann ist die Verbindung abgebrochen. Hab dann nur noch verstanden, ich solle irgendwo hinkommen, wo wir uns treffen. Wir haben also beide den Termin versemmelt … obwohl es ja eindeutig nicht unsere Schuld war!« Grinsend hob sie den Zeigefinger.
»Lass so was, Eve. Ich hasse es, wenn du ständig Spielchen mit mir spielst! Ich dachte wirklich kurz, du wärst stinksauer auf mich.«
»Du machst es einem aber manchmal auch ein wenig zu einfach. Aber ich bin auch eine begnadete Schauspielerin«, sagte Eve mit einem Augenzwinkern. »Entschuldige, wenn ich dich verärgert habe. Ich kümmere mich um einen neuen Termin mit dem Vermieter.«
»Also das ist wirklich das Mindeste«, sagte Quinn und küsste Eve auf die Lippen. »Irgendwie ein seltsamer Tag heute. Stockender Verkehr, kein Netz, das Radio funktioniert nicht. Was ist denn nur los?«
»Was es auch ist, es vermiest uns nicht den Tag!«, erwiderte Eve und hakte sich bei ihm ein. »Lass uns eine Runde spazieren gehen. Das Wetter ist wunderschön heute. Außerdem bin ich auf dein Konzept gespannt, von dem du mir erzählen wolltest.«
Sie spazierten durch den Park; er spürte, wie sie den Körperkontakt suchte.
»Wie war der Termin bei deinem Therapeuten? Bist du durch? Ist die Behandlung zu Ende?«
»Ich habe das Prädikat ›geistig gesund‹ erhalten. Es ist vorbei, ich habe es hinter mir.«
»Und was ist mit den Pillen?«, hakte Eve nach. »Kannst du sie gefahrlos absetzen? Ich weiß, du hast ein Problem damit, sie zu nehmen, aber, Quinn, ich hatte in der Vergangenheit auch ein Problem, als du sie noch nicht genommen hast. Du wärst beinahe einer dieser Öko-Terroristen vom Grünen Patron geworden.«
»Die Pillen, ja, die brauch ich nicht mehr. Alles ist gut. Mach dir keine Sorgen, meine kreativen Blockaden sind dann hoffentlich auch Geschichte. Ich habe jetzt bereits unendlich viele neue Ideen im Kopf.« Seiner Meinung nach log er Eve nicht direkt an, da seine Worte gewissermaßen der Wahrheit entsprachen. Er war der festen Überzeugung, er bräuchte die Pillen nicht mehr. Nach der tatsächlichen ärztlichen Empfehlung hatte Eve immerhin nicht gefragt.
»Das freut mich, ich bin glücklich, das endlich hinter uns lassen zu können. Dann bin ich aber auch gespannt. Was für ein Konzept hast du entwickelt?« Eve hatte die Angewohnheit, bei Fragen den Kopf leicht zur Seite zu neigen und sich etwas nach vorne zu beugen. Quinn fand diese Geste niedlich, auch wenn sie ihm zu Beginn ein wenig schräg vorgekommen war.
»Pass auf, das Motto meines Konzeptes ist: das Unbekannte!« Quinn enthüllte den unsichtbaren Titel mit seinen Händen in der Luft.
»Das Unbekannte? Was meinst du damit? Was soll das für ein Motto sein?«
»Du erinnerst dich bestimmt an mein Gemälde Verblassende Sterne?«
»Ich liebe dieses Gemälde, ja, insbesondere dass du bis auf einige goldene Lichtpunkte in der rechten unteren Ecke fast alles vollständig in Schwarz gehalten hast«, sagte Eve. »Diese Lichtpunkte sind aber schwach, und sie erstrahlen nicht, sondern erlöschen wie sterbende Sterne. Also handelt das Bild vom Tod, von etwas, das endet?«
»Richtig, aber das Gemälde handelt genauso von etwas, das beginnt, und somit nicht nur vom Tod, sondern auch vom Leben. Das ist das Unbekannte – wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen.«
»Aus rein künstlerischer Sicht sind deine Werke beeindruckend«, meinte Eve, »keine Frage, aber mir ist nicht klar, wie wir dieses Konzept für unsere Agentur verwenden können. Du weißt, wir befassen uns an sich mit Kommunikation, ja, mit Werbung, auch wenn sie für die gute Sache ist. Das muss von den Menschen, die wir damit erreichen wollen, verstanden werden.«
»Damit magst du womöglich nicht falschliegen. Jedes meiner Bilder ist ein Geheimnis, das der Betrachter nicht sofort verstehen kann, wenn überhaupt. Darum geht es auch nicht, es geht nicht um Verständnis, sondern um Gefühle.«
»Und wie stellst du dir vor, dein Konzept als Werbung umzusetzen?«, fragte Eve.
»Du kennst doch dieses Hilfswerk, das Essen kostenfrei an Bedürftige ausgibt. Ich meine den Laden, wo wir letztes Jahr auch schon mal waren. Ich habe letztens erst gelesen, dass diese Einrichtung kurz vor dem Aus steht. Die Spendengelder sind auf ein Rekordtief gesunken. Warum? Viele haben es noch nie nötig gehabt, die Abfälle der Supermärkte zu durchwühlen. Hunger ist ihnen per se unbekannt. Diese Leute müssen wir ansprechen, und das geht mit Kunst. Ich werde eine Kampagne entwickeln, die das Gefühl des Hungerns ausdrückt, was sich für den Betrachter der Kampagne womöglich unangenehm anfühlen wird. In der zweiten Kampagnenphase werden wir dann den Bezug zum Hilfswerk herstellen und den Menschen eine Möglichkeit bieten, durch ihre Unterstützung dieses unangenehme Gefühl zu mindern. Wie ich das alles gestalte, weiß ich noch nicht, aber die Ideen werden mir in nächster Zeit schon zufliegen, wenn ich meine Pillen abgesetzt habe.«
»Gut, dein Ansatz ist durchaus innovativ und vor allem idealistisch, das gefällt mir, aber dieses Konzept kannst du keiner Bank verkaufen. Wir brauchen immerhin einen Kredit. Lass uns anfangs laut sein, Aufmerksamkeit auf uns ziehen und uns einen Namen machen. Dein Konzept läuft ja nicht weg. Das ist dann eher so was wie unser neuster Streich, mit dem wir alle überraschen werden.«
»Banken?«, fragte Quinn. Die Vögel auf dem nächstgelegenen Baum krächzten, bis sie allesamt scheinbar empört davonflatterten. »Eve, wir kennen Robert, er wird uns schon einen Kredit besorgen. Mach dir keine Gedanken, ich habe das alles von vorne bis hinten durchdacht. Ich dachte, du …«
Ein dumpfer Knall unterbrach ihr Gespräch und hallte einige Sekunden nach. Der Boden vibrierte. Eve blickte sich verwirrt um. Sie erschrak, als ein toter Vogel vor ihren Füßen aufschlug, und klammerte sich instinktiv an Quinn. Wenige Meter entfernt fielen weitere Vögel leblos vom Himmel.
Quinn schaute nach oben und entdeckte die mysteriösen Blitze, die er bereits am Morgen beobachtet hatte. Lang gestreckt wie gleißende Aale zogen sie ihre Bahnen in Richtung des Stadtzentrums – und vermehrten sich.
»Ich habe das Gefühl, dass hier gerade eine neue Inspirationsquelle für deine Kunst entstehen könnte«, sagte Eve trocken.
Robert beobachtete angespannt den Himmel und grübelte über die eigenwilligen Blitze nach, die sich im Tagesverlauf merklich häuften; die ungerechte Behandlung seines Chefs war für den Moment vergessen. Einige seiner Arbeitskollegen standen neben ihm am Fenster und verfolgten neugierig das Schauspiel.
»Hast du auch diesen dumpfen Knall gehört?«, sagte Lisa. »Das war bestimmt einige Kilometer entfernt, aber die Fenster haben trotzdem … na ja … gezittert. Und der Himmel ist wolkenfrei, das ist doch kein gewöhnliches Gewitter.«
»Das habe ich auch gespürt«, erwiderte Robert. »Das muss mit diesen Blitzen zusammenhängen! Außerdem, sind dir die ganzen Hubschrauber in der Luft aufgefallen? Was ist da denn los? Was suchen die?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lisa. »Wie auch? Nichts funktioniert! Mein Freund wohnt im Stadtzentrum, aber ich erreiche ihn nicht. Das Internet ist tot, und im Fernsehen läuft nur Schnee. Mittlerweile mache ich mir richtig Sorgen.«
»Ach, das wird nicht der Weltuntergang sein«, sagte Robert, »aber ich bin trotzdem auf die Erklärung gespannt. Die Technik wird bestimmt bald wieder funktionieren, dann wissen wir mehr.«
»Ich frage mich trotzdem, was da vor sich geht. So etwas habe ich nie zuvor erlebt. Normalerweise verhält sich das Wetter anders. Wir kennen alle die jährlichen Sommerorkane und Winterblizzards, aber das ist mal was Neues.«
»Ja, für ein natürliches Wetterphänomen wirklich eigenartig. Ich frage mich, wie natürlich das tatsächlich ist. Die Blitze bewegen sich anscheinend systematisch und haben alle das gleiche Ziel: das Stadtzentrum. Vielleicht steckt der Mensch dahinter.« Robert fiel das Neo-greyTek-Institut ein mit dessen geheimer Forschung im Kern.
»Stimmt, die Flugbahn der Blitze folgt einem System, aber mir würde nichts einfallen, was das auslösen könnte.«
»Keine Ahnung, vielleicht gibt es irgendwo in der Stadt etwas, das diese Blitze provoziert«, sagte Robert. »Irgendwas, das Elektrizität gezielt anzieht.«
»Aber was soll da schon Großartiges sein?«, konterte Lisa. »Ich glaube kaum, dass es in der Stadt einen Laden gibt, der überdimensionale Teslaspulen oder so verkauft.«
»Keiner weiß, was Neo-greyTek all die Jahre mit dem Teilchenbeschleuniger angestellt hat. Aber wahrscheinlich können wir noch den restlichen Tag über die Ursachen spekulieren und werden trotzdem nicht auf die Lösung kommen. Vermutlich ist die wahre Ursache schlussendlich etwas ganz anderes.«
Quinn und Eve schlenderten auf dem Weg zu Quinns Käfer den Bürgersteig entlang. Eve hatte sich im Park unbehaglich gefühlt; die toten Vögel und die Blitze beunruhigten sie, und sie bevorzugte es, den restlichen Tag in ihrer Wohnung zu verbringen. Dort würde Quinn sie sicherlich von seinem Konzept überzeugen können; seine Idee musste er nur bei ihr sacken lassen. Eve würde ihn unterstützen, er war nicht besorgt, dass sie ihn enttäuschen würde.
»Was ist bloß vorhin mit den Vögeln passiert?«, fragte Eve. »Das ist ziemlich schräg.«
»Plötzliches Vogelsterben ist ein Phänomen, das öfter mal vorkommt, beispielsweise in Schweden«, sagte Quinn und erinnerte sich an einen Artikel, den er vor einiger Zeit gelesen hatte.
»Und was war dafür verantwortlich?«, fragte Eve.
»Da ist sich die Wissenschaft noch nicht einig. Vielleicht hängt es mit dem Magnetfeld zusammen. Vögel navigieren doch damit. Womöglich haben sie durch eine Magnetfeldstörung die Orientierung verloren und sind abgestürzt. Die eigenartigen Blitze sind vielleicht so eine Art … ähm … Lichtreflexion des Magnetfeldes?«
»Das scheint mir etwas weit hergeholt zu sein. Wie erklärst du dir den dumpfen Knall? Das war womöglich ein Düsenjet, der die Schallmauer durchbrochen hat, und die Vögel haben davon einen Schock gekriegt.«
»Und dann sind sie vor Schreck gestorben?«, hakte Quinn nach. »Das ergibt auch keinen Sinn, außerdem, wie erklärst du dir die Blitze?«
»Wer sagt denn, dass der Knall und die Blitze zusammenhängen? Was, wenn beides nichts miteinander zu tun hatte und das nur reiner Zufall war?«
»Das wäre aber ein ganz schön dicker Zufall, meinst du nicht auch?«
»Was auch dahintersteckt, werden wir morgen früh in den Nachrichten erfahren«, sagte Eve.
Sie näherten sich den Parkbuchten neben der Straße, aufmerksam hielt Quinn nach seinem Käfer Ausschau. Er entdeckte ihn aus der Ferne nicht, glaubte zunächst, dass ein anderes Auto vermutlich nur die Sicht verdeckte. Als er seine Parklücke erreichte, blieb er ratlos stehen und blickte auf den Asphalt hinab – sein Käfer war fort.
»Alles in Ordnung?«, fragte Eve.
»Augenblick, ich habe doch hier geparkt, oder irre ich mich da? Nein, das war hier, ich bin mir ganz sicher!«
»Du hast hier geparkt?«, fragte Eve, als sie auf die vermeintliche Parklücke zeigte. »Direkt da vorne?«
»Mein Auto wurde gestohlen! Wer stiehlt denn so eine alte Karre? Ich stand doch an der Hauptstraße, warum hat niemand die Polizei gerufen? Das Türschloss wurde bestimmt geknackt, und danach muss der Dieb den Wagen kurzgeschlossen haben. Ist niemandem aufgefallen, dass hier ein Auto gestohlen wurde?« Quinn verstummte, doch dann fiel ihm ein: »Verdammt, meinen Wagen muss man gar nicht kurzschließen. Ich hab einen Ersatzschlüssel unter der Sonnenklappe versteckt. Aber wer würde da schon suchen? Augenblick, wahrscheinlich hab ich sogar vergessen abzuschließen. Ich war heute Mittag in Eile, nachdem ich geparkt habe. Mist … so ein verdammter Mist!«
»Du wurdest abgeschleppt«, sagte Eve nüchtern.
»Ich wurde was? Das kann nicht sein.«
»Du warst beim Parken unaufmerksam. Du hast die Einfahrt hier übersehen. Siehst du das Schild da vorne, PARKEN VERBOTEN?« Eve verkniff sich ein Lachen. »Übrigens, wenn ich ein Auto stehlen würde, wäre die Sonnenklappe der erste Ort, an dem ich nach dem Schlüssel suchen würde.«
Quinn legte seinen Arm um Eve und lief mit ihr die Straße entlang. »Dann werden wir heute wohl die Straßenbahn nehmen müssen.«
Kapitel 3
Bekackter Saftladen! Ich hätte das wie Quinn machen sollen, meinem Traum folgen und mein Ding durchziehen. Weshalb sollte ich nicht kündigen und ins Handwerk gehen? Etwas herstellen, das ich anfassen und auf das ich stolz sein kann. Gut, das würde einem sozialen Abstieg gleichen, aber ist sozialer Abstieg wirklich so schlimm?
Robert fuhr seinen Computer herunter und packte seine Sachen zusammen. Nachdem er seine Aufmerksamkeit von den Blitzen abgewandt hatte, war all der Unmut gegenüber seinem Chef und seinem Job zurückgekehrt.
»Robert, gehst du schon? Feierabend ist erst in drei Stunden«, sagte Lisa neben ihm am Schreibtisch mit einem merklich entsetzten Unterton in ihrer Stimme.
»Mein Überstundenkonto explodiert beinahe, und wenn ich dafür schon nicht finanziell entlohnt werde, dann werde ich nun die mir zustehende Freizeit einlösen. Das ist mein gutes Recht.« Robert schloss seinen Aktenkoffer absichtlich laut.
»Aber hast du die Vorausrechnungen für die nötigen Budgets im kommenden Quartal schon fertig? Ich brauch die Zahlen heute noch für meinen Prognosebericht.«
»Nein«, antwortete Robert klar und deutlich und ließ durch seinen Tonfall keinen Zweifel, dass sie die Zahlen heute nicht mehr von ihm erhalten würde.
»Aber wenn ich den Bericht dem Chef heute nicht vorlege, wird er mir den Kopf abreißen. Ich bin schon eine Woche im Verzug, aber ich konnte noch nicht daran arbeiten, da war so viel anderer Kram vorher zu erledigen. Robert, du musst bleiben!«
»Das ist mir egal, dein Bericht ist nicht mein Problem. Außerdem sind dafür im Büro noch genügend andere fähige Mitarbeiter. Alle Dateien für die Vorausrechnung sind im Intranet freigegeben. Ich mache jetzt Feierabend und gehe nach Hause. Meine Bahn kommt gleich, ich muss los. Der Tag war verrückt genug; ich werde ganz bestimmt nicht schon wieder die halbe Nacht im Büro verbringen!«
Er stand auf und ging, ohne zurückzublicken.
Quinn und Eve saßen sich in der Straßenbahn gegenüber; die Polster der Sitze waren schmutzig und voller Risse und Löcher, die Fenster waren großflächig mit Graffitis beschmiert, und der Boden klebte an ihren Füßen.
»Der Innenraum der Bahn ist so eklig. Wenn wir bei mir sind, werde ich erst mal heiß duschen, ich will gar nicht wissen, in was für Keimen wir gerade sitzen.« Eve rieb ihre Hände mit Desinfektionsmittel ein, das sie immer in ihrer gelben Umhängetasche dabeihatte. Anschließend kratzte sie sich am Hinterkopf.
»Keime?«, sagte Quinn, lehnte sich zu Eve und zupfte in ihrem Haar. »Das sieht mir eher nach Läusen aus. Aber keine Sorge, ich entlause dich schon. Außerdem habe ich einen Mordshunger. Wo haben sich die kleinen Snacks versteckt?«
»Ich bin doch kein Affe«, sagte Eve und drückte Quinn zurück auf seinen Sitz. »Und das ist nicht lustig, ich wäre nicht verwundert, wenn man sich hier tatsächlich Läuse einfängt.«
»Ich mache doch nur Spaß, jedenfalls bis auf den Punkt mit dem Mordshunger. Hast du noch was zu essen da?«
»Oh je, das sieht in meinem Kühlschrank ganz düster aus. Aber ich habe eine super Idee! Du springst an der übernächsten Haltestelle raus und holst uns was vom Bio-King!«
»Aber da gibt es doch nur Salat!«
»Quinn, dein Körper ist wie ein Tempel. Behandele ihn auch so, außerdem kann ich mich dann in der Zwischenzeit zu Hause frisch machen und bin in allerbester Laune, wenn du kommst.« Eve hob mit einem verschmitzten Lächeln zweimal ihre Augenbrauen.
»In Ordnung, überzeugt, Körper wie Tempel, du bekommst deinen Salat.«
Die Bahn hielt wenig später, und Eve verabschiedete sich mit einem Kuss von Quinn. Nachdem er an der Haltestelle ausgestiegen war, entdeckte er Robert in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug, der durch die Gläser seiner mit einem dicken schwarzen Gestell umrandeten Brille den Fahrplan las.
»Schickes Outfit. Kommst du gerade aus deinem Pinguin-Club?«, sagte Quinn. Robert ähnelte mit seinen dunklen, nach hinten gegelten Haaren eher dem Buchhalter eines Mafioso als einem Banker.
»Hey, Quinn, kennst ja die Kleiderordnung in dem Laden. Mit unserem Skater-Outfit von früher kann ich da nicht auftauchen.«
»Immerhin hast du eine gute Position erreicht und es von allen am weitesten gebracht.«
»Ja … ich kann mich wirklich … glücklich schätzen.«
»Hast du meinen Kreditantrag eigentlich schon bearbeitet?«, fragte Quinn. »Wann können Eve und ich mit dem Geld rechnen? Sobald Eve ihren Abschluss hat, wollen wir beide durchstarten.«
»Was den Kredit angeht, ich habe mir das angeschaut, und … geduldet euch noch etwas … die Mühlen bei uns mahlen langsam«, wich Robert Quinns Frage aus.
»Aber du lässt mich nicht hängen, ja?«, hakte Quinn nach. »Der Kredit ist wichtig für uns.«
»Sicher, ich halte dich auf dem Laufenden. Aber was verschlägt dich eigentlich hierher? Bist du auf die Straßenbahn umgestiegen?«
»Mein Käfer wurde heute Mittag abgeschleppt, mir bleibt leider keine andere Wahl. Ich will Eve und mir nur was zu essen holen.«
»Du wurdest abgeschleppt? Weswegen?«, fragte Robert.
Quinn senkte stöhnend den Kopf. »Das war selten dämlich. Ich war spät dran, musste schnell irgendwo parken und habe mich vor eine Einfahrt gestellt, hab das einfach übersehen. Aber besser so, als wenn der Wagen geklaut worden wäre.«
»Versteckst du den Ersatzschlüssel eigentlich immer noch hinter der Sonnenklappe?«
»Da weiß ich wenigstens, wo er notfalls ist«, antwortete Quinn.
»Und was machst du, wenn du deinen Schlüssel verlierst und das Auto abgeschlossen ist?«, fragte Robert skeptisch.
»Jetzt stell doch meine Logik nicht infrage, du bist ja schlimmer als Eve.«
»Wie wäre es, wenn du auch noch deine Fahrzeugpapiere im Handschuhfach unterbringst? Du willst es den Autodieben doch nicht zu schwer machen. Spaß beiseite, sind dir eigentlich schon diese Blitze heute aufgefallen?«
Eric lief genervt die Straße entlang. Er wusste nicht, wie er zügig zur Werkstatt zurückkommen sollte. Sein Handy hatte keinen Empfang, und ein Taxi war weit und breit nicht zu sehen. Wenigstens funktionierte sein Mp3-Player noch, und er hörte laute Rockmusik, zu deren Beat er rhythmisch nickte.
Als er am Bio-King vorbeilief, erinnerte er sich, dass die nächste Straßenbahnhaltestelle ganz in der Nähe war. Eric blieb stehen, um sich zu orientieren. Ein Blick auf die Straße genügte, um die Bahnschienen zu erkennen, denen er einfach folgen musste.
Er bemerkte, dass die Menschen auf dem Gehweg nach oben schauten. Die ungewöhnlichen Blitze schlängelten sich über den Himmel, in langen Zickzacklinien, wie die Kondensstreifen von Flugzeugen, nur schmaler und grell strahlend. Gegen Mittag waren es nur eine Handvoll Blitze gewesen, doch ihre Anzahl war mittlerweile drastisch angestiegen, und die Fußgänger beobachteten nervös das Geschehen über ihnen. Ein Hubschrauber nach dem anderen rauschte über ihre Köpfe hinweg; sie flogen tief, und Menschen beugten sich heraus.
Ein Blitz schoss in eine Gasse wenige Meter von Eric entfernt herab; sekundenlang blieb die Verbindung zwischen Himmel und Boden bestehen, und ein greller Lichtstrahl balancierte zwischen zwei Gebäuden, bis der Blitz verpuffte und daraufhin blaues Licht aus der Gasse strahlte.
Eric blinzelte ein paarmal und rieb sich die Augen. Bilde ich mir das gerade ein?, fragte er sich und näherte sich vorsichtig der Gasse. Sie führte in einen kleinen Hof, der von einigen Wohnhäusern umgeben war. Eric sah drei ellipsenförmige Gebilde in der Luft schweben, als wären drei Fenster in eine andere Realität geöffnet worden. Das blaue Licht stammte von der Umrandung der Gebilde, einem gleißenden Rahmen, den Blitze wie ein schnell umherschlängelnder Stacheldrahtzaun umwickelten. Innerhalb entdeckte Eric einen dichten Wald, in einem anderen eine öde Wüstenlandschaft und im letzten einen flachen Ozean, aus dem vereinzelt spitze Felsnadeln ragten. Doch eines hatten alle gemeinsam – die Hügelkette in der Ferne. Eric erkannte an der Form, dass es die Hügelkette außerhalb der Stadt war, deren Abhang er letzten Sommer mit seinem Mountainbike hinuntergeheizt war.
Das ist der gleiche Ort, realisierte er. Nur irgendwie doch nicht.
Die vermeintlichen Portale wuchsen, als breite sich eine Wunde in der Realität aus. Eric roch Morgentau, daraufhin juckte Sand in seinen Augen, und eine frische Meeresbrise blies ihm entgegen. Bevor er die widersprüchlichen Sinneseindrücke einordnen konnte, berührten sich die Portale und verschwanden mit einem kurzen Zischen, begleitet von dünnen Blitzen, die sich zügig auflösten.
Eric erblickte inmitten des Hofes eine junge Frau, die die Portale zuvor verdeckt hatten. Er zog den Kopfhörer aus seinem linken Ohr und starrte sie an. Sie war kreidebleich und zitterte am gesamten Körper; ihr Gesicht zeichneten Kratzer und Schrammen; sie schien an den Rippen verletzt, denn ihre Hände waren blutverschmiert und ein scharlachroter Fleck drang durch ihr grünes Kleid. Die junge Frau humpelte Eric entgegen, sie war mit ihren Kräften sichtlich am Ende und versuchte, sich auf Eric zu stützen, als ihre Beine nachgaben. Anstatt sie aufzufangen, wich Eric einen Schritt zurück. Er trug seine neue Lederjacke und wollte auf unschöne Blutflecke verzichten. Die junge Frau fiel und knallte mit ihrem Kopf auf den Asphalt.
Einige der anderen Passanten bemerkten das Geschehen. Zwei Männer eilten zu Hilfe, stießen Eric zur Seite und halfen der jungen Frau auf. Einer der Männer sagte zu Eric: »Mach Platz, du Idiot. Du stehst im Weg!«
Eric fühlte sich beleidigt, seiner Meinung nach hatte er keinen Fehler gemacht.
»Geht es Ihnen gut? Was ist passiert?«, fragte einer der Männer die verletzte Frau. Sie wirkte verstört und brauchte einen Augenblick, bis sie antwortete.
»Da war dieser helle Blitz … und dann … dann …«, stotterte sie.
»Was war dann? Was ist passiert?«, fragte der andere Mann.
»Ich wollte nur mit meinem Hund Gassi gehen«, sagte die junge Frau. »Dann dieser Lichtblitz, und die Stadt war plötzlich verschwunden … nur noch Wüste … dann hat mich etwas angegriffen.«
»Was hat Sie angegriffen?«
Die junge Frau starrte den Mann apathisch an, als würde sie nicht begreifen, worüber er sprach; anschließend wandte sie ihren Blick nach unten und bemerkte ihre Verletzung.
»Blut? Ist das mein Blut? Und wo ist mein Hund? Wo ist mein Hund hin?« Sie blickte hektisch nach rechts und links.
Auf dem Boden entdeckte Eric eine Blutspur, die vom Hof aus bis zur Häuserfassade reichte und selbst die Wände bis zum Dach beschmierte.
Bevor Eric mehr erkennen konnte, lenkte ihn ein Donnern ab. Der Boden vibrierte, und der Lärm dröhnte ausdauernd nach; die Luft elektrisierte sich, und feine Blitze flitzten umher. Eric rannte auf die Straße, um die Ursache des Lärms zu lokalisieren, konnte jedoch nichts erkennen. Alle blickten sich um, doch der Lärm kam von überall. Das Dröhnen nahm langsam ab, und die Situation normalisierte sich – aber nur kurz.
Eric registrierte ein ratterndes Geräusch, wie ein monströser Schluckauf, der immer lauter wurde. Ein Helikopter näherte sich von oben und taumelte herab in Richtung Straße. Im Cockpit erblickte Eric den Piloten, dessen Gesichtsausdruck Panik und Angst zeichneten. Der Mann zog den Steuerknüppel nach hinten und versuchte, das Fluggerät zu stabilisieren – erfolglos. Schwarzer Rauch drang aus dem Heckrotor, kurz darauf drehte sich der Hubschrauber wild im Kreis und näherte sich bedrohlich dem Boden. In der Luft entdeckte Eric weitere Helikopter mit dem gleichen Problem – verletzte Libellen, die unter den Wolken strauchelten. Eric wich zurück, floh gemeinsam mit den anderen Fußgängern. Er drehte sich flüchtig um und sah den Hubschrauber auf die Straße schmettern. Die Rotorblätter verbogen sich, und das Cockpit kratzte über den Asphalt.
Die Türen der Straßenbahn standen noch offen, doch Robert stieg nicht ein, sondern schaute verunsichert zu Quinn.
»Was ist das für ein Lärm? Dieses Dröhnen und dieser Krach?« Robert hob seine Augenbrauen, sodass sich seine Stirn kräuselte.
Quinn blickte in den Himmel. »Schau, die Blitze werden immer intensiver. Wo kommen die auf einmal alle her?«
Ein Wolkenkleid umgab die Blitze und breitete sich wie ein Taubenschwarm über der Stadt aus; schnell verwandelte sich das Weiß der Wolken in Schwarz und hüllte das Firmament in Finsternis; die Gebäude färbten sich grau, trostlos und trist. Komplexe Strukturen durchwanderten die dunkle Wolke, als wären sie gleißend helle Blutadern, die ein monströses Ungetüm am Himmel zum Leben erweckten. Das Wolkenmassiv begann wie das Wasser um einen Strudel langsam zu rotieren. Aus dem Schlund schimmerte bläuliches Licht, doch aufgrund Quinns schlechten Blickwinkels konnte er nicht erkennen, was sich jenseits des Tornadotrichter-ähnlichen Wolkengebildes verbarg. Die Blitze zogen darin ihre Kreise und trotzten allen physikalischen Gesetzen. Quinn hörte erneut dieses Donnern, gefolgt von spürbar vibrierender Luft. Die Wolken drehten sich schneller, ein lauteres Krachen ließ die Luft erbeben, und der Strudel beschleunigte weiter. Donner auf Donner folgte – in immer kürzeren Abständen, wie ein aufbrausender Trommelwirbel – und heizte die Rotation an, bis die Wolken um die eigene Achse rasten.
Passanten liefen in Panik über den Bürgersteig und die vierspurige Hauptstraße und suchten Deckung; einige flüchteten in Geschäfte, andere rannten weiter geradeaus. Als die Menschenmenge sie passierte, schritten Quinn und Robert zurück und fanden in der überdachten Haltestelle Schutz. Unzählige verunsicherte Gesichter huschten an ihnen vorbei; eines dieser Gesichter kannten sie: Es war Eric, der überrascht bei Robert und Quinn stoppte.
Die Wolkenrotation über dem Stadtzentrum stoppte abrupt, und die Blitze erstarrten, aber pulsierten sanft. Quinn blickte der Naturgewalt entgegen, hoffte, das Schlimmste wäre überstanden und das Phänomen würde bald enden und sich auflösen. Doch die lauernden Blitze entluden die angestaute Elektrizität auf die Straßen. Elektrische Speere donnerten auf den Asphalt, schlugen tiefe Löcher in den Boden, als brächte ein rachsüchtiger Gott in seinem Zorn Unheil über die Menschheit. Die Leute rannten unkoordiniert über die Straße und versuchten, den Blitzen auszuweichen. Als die ersten Passanten getroffen wurden, die tausend Grad heiße Elektrizität sie innerhalb einer Sekunde zu Asche pulverisierte und sie buchstäblich zu einem Nichts verdampften, brach endgültig pures Chaos aus.
»In die Bahn, schnell!«, schrie Quinn, der hoffte, die Straßenbahn würde sie wie ein Faraday’scher Käfig vor den Blitzen schützen. Eric und Robert folgten Quinns Anweisung und hechteten in den ersten der drei Waggons.
Die Bahn war beinahe leer, bis auf den Lokführer und zwei weitere Passagiere.
»Schließen Sie die Tür!«, rief Quinn dem Lokführer zu, der keine Sekunde zögerte.
Wie eine Flutwelle überschwemmten Blitze die gesamte Umgebung. Ein gleißender Rammbock donnerte durch die Straßen, erfasste Gebäude, parkende Autos und die Bahn. Menschen unter freiem Himmel waren chancenlos. Die Baumreihe am Straßenrand fing Feuer, genährt durch die trockenen Blätter, wodurch die Äste lichterloh brannten. Der Umgebungsanstrich wandelte sich in ein Wechselspiel von Schwarz und Rot. Die Bahn jedoch schützte die Insassen vor dem Blitzgewitter und zwang sie, das Schauspiel machtlos mit anzusehen.
Als von den Menschen draußen nur noch Staub zurückgeblieben war, als das Geschrei verstummte und Stille folgte, stoppte das elektrische Bombardement. Quinn blickte nervös aus dem Fenster.
Das Gebäude gegenüber der Bahn veränderte sich; es war ein altes Wohnhaus, dessen Putz bereits abbröckelte und feine Risse durchfrästen – eine gründliche Sanierung war bitter nötig. Die Fenster hatten Rundbögen, die wie strahlende Augen wirkten, und die Fassade darunter zierten Tierornamente. Zunächst krümmten sich die Wände leicht, als würde man in einen verbogenen Spiegel schauen; anschließend zitterte die Fassade, und die feste Struktur der Wände veränderte sich, weichte auf, als bestände das Mauerwerk aus Knete. Quinn glaubte einen Augenblick, ein Gemälde aus Pastellfarben zu betrachten. All die Makel des Gebäudes verschwanden; der Putz erneuerte sich, als würde sich die Fassade verjüngen und von dem schleichenden Verfall geheilt werden. Das Wohnhaus erweckte nun den Eindruck, erst vor Wochen errichtet worden zu sein. Aber so blieb es nicht lange. Die Wände wurden wieder marode, faulten dahin, und kurz darauf blickte Quinn auf eine Ruine. Doch auch diese Veränderung dauerte nur wenige Sekunden an; schnell entwickelte sich das Gebäude in seine ursprüngliche Form zurück, nur um sich dann aufs Neue wieder zu verändern und den gesamten Vorgang zu wiederholen. Ein surrealer Tanz des Unmöglichen.
»Was passiert da gerade?«, fragte Quinn, unfähig, eine rationale Erklärung für das Gesehene zu finden.
Als er daraufhin zum Heckfenster der Bahn blickte, entdeckte er weitere Blitze, die sich anfangs als wachsender Lichtpunkt aus dem Nichts bildeten; ein Blitzgebilde wie ein wirbelnder Mopp entstand geschätzte hundert Meter entfernt und schwebte träge über der Straße. Die neuen Blitze breiteten sich aus, vereinten sich dabei und wandelten ihre Gestalt in einen aus weißen Flammen bestehenden Leviathan. Die davon berührten Gebäude veränderten sich wie das gegenüber der Bahn, durchlebten den gleichen Zyklus aus Verfall und Modernisierung.
Quinn zeigte mit dem Finger auf die nahende Bedrohung, mehr als ein Stottern brachte er nicht über die Lippen. Die Blitzgestalt schnellte auf die Bahn zu, als hätte ein hungriges Ungetüm ein hilfloses Beutetier ausgemacht.
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